Stephan Balliet
Quick Facts
Biography
Der Anschlag in Halle (Saale) am 9. Oktober 2019 war der Versuch eines Massenmordes an Juden am Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Der Rechtsextremist Stephan Balliet versuchte, in die Synagoge im Paulusviertel einzudringen, um dort versammelte Personen zu töten. Nachdem ihm dies auch mit Waffengewalt nicht gelungen war, erschoss er vor dem Gebäude eine Passantin und kurz darauf den Gast eines Döner-Imbisses. Auf seiner Flucht verletzte er zwei Personen durch Schüsse und wurde schließlich von zwei Streifenbeamten festgenommen. Datum, Ziel und die antisemitischen Motive der Tat hatte er zuvor im Internet bekanntgegeben. Die Tat übertrug er per Helmkamera als Live-Streaming.
Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen den geständigen Täter wegen zweifachen Mordes und neunfachen versuchten Mordes.
Tatmotive und Vorbilder im Internet
Kurz vor der Tat erschien auf dem Imageboard „Meguca“ ein Link auf ein Bekennerschreiben in englischer Sprache im Internet. Darin gab der Verfasser Auskunft über seine Motive, Absicht, Planung und seinen Antisemitismus: Ursprünglich habe er eine Moschee oder ein Antifa-Zentrum stürmen wollen, weil sie schlechter bewacht seien. Doch wolle er vorrangig Juden ermorden, da diese auch hinter muslimischer Einwanderung nach Europa steckten. Er habe die Synagoge von Halle als Ziel gewählt, weil sie der nächstgelegene Ort sei, an dem er Juden finden könne. Den Jom Kippur habe er gewählt, weil er hoffe, an dem Tag würden sich auch viele „nicht-religiöse Juden“ in der Synagoge aufhalten. Er habe bewusst darauf verzichtet, diese auszukundschaften, um nicht aufzufallen. Wenn er „nur einen Juden“ töte, sei das den Anschlag wert. Demnach glaubte der Autor an eine jüdische Weltverschwörung und wollte in der Synagoge wahllos soviele Juden wie möglich töten. Zudem beschrieb er ausführlich, wie er zwei primitive Schrotflinten („slam-fire shotguns“), zwei Maschinenpistolen und die Munition dafür hergestellt hatte. So wollte er mit seinem Attentat auch die Schlagkraft selbstgebauter Waffen beweisen.
In einer „DoKumentation“ betitelten PDF-Datei nannte der Täter drei angestrebte Ziele: „1. Beweise die Realisierbarkeit von improvisierten Waffen; 2. Erhöhe die Moral anderer unterdrückter Weißer, indem du das Kampfmaterial verbreitest; 3. Töte so viele Anti-Weiße wie möglich, vorzugsweise Juden; Bonus: Nicht sterben.“ Er forderte seine Leser explizit zur Nachahmung auf, warnte dabei aber vor der „ZOG“. Diese Abkürzung für „Zionist Occupied Government“ ist seit Jahrzehnten bei Neonazis verbreitet und bezeichnet ihre Verschwörungstheorie für angeblich von Juden beherrschte Regierungen, besonders der USA und Deutschlands. Auf der letzten Seite stand eine Liste mit Achievements („Erfolgen“), die es etwa für Morde an Juden, Muslimen, Christen, Kommunisten und Schwarzen gebe. Dabei bezog er sich auf Belohnungssysteme in Computerspielen und Highscore-Tabellen für Amoktäter, Attentäter und Terroristen in rechtsextremen Foren. Schon der norwegische Massenmörder Anders Breivik hatte seinen Mordplan in einem vorab veröffentlichten Text als Computerspiel mit zu erreichenden Levels beschrieben. Der Täter von Halle reihte sich damit in eine Internetszene von Rechtsterroristen ein, die einander nachahmen, um ihrerseits möglichst viele Nachahmungstäter zu motivieren.
Balliet zeigte und benutzte in seinem Livestream dieselben Waffen gegen dasselbe Ziel, das die Bekennertexte beschreiben. Demnach hatte er diese verfasst. Danach sah er sich als Kämpfer in einem Rassenkrieg mit dem Ziel, möglichst viele Juden zu ermorden. Obwohl er die Synagoge in Halle nicht auskundschaftete, rechnete er damit, nicht hineinzugelangen. Darum plante er, mit Sprengkörpern Feuer zu legen, um die Besucher nach draußen zu treiben. Er beschrieb den angestrebten Tatablauf mit Ausdrücken von Egoshooter-Spielen. Aus dieser fortgeschrittenen „Gamifikation“ des Terrors folgern Ermittler, dass er sich schon länger in solchen Onlineforen aufhielt, wo Massenmorde mit Punkten und Rangfolgen bewertet, Opfer verhöhnt und Hasskommentare gegen bestimmte Minderheiten und Frauen ausgetauscht werden. Dort hatte er ein Publikum aus Mitwissern und Unterstützern seiner Terrorabsichten.
Als weniger beachtetes drittes Motiv stellte das TV-Magazin Panorama Antifeminismus heraus: „Der Frust, keine Freundin zu haben, hat auch den Täter von Halle geprägt – und offenbar radikalisiert.“
Die Zusammenstellung der Motive, deren vorherige Bekanntgabe im Internet, die englische Sprache, um ein globales Publikum zu erreichen, und die Direktübertragung der Tat ähneln dem Vorgehen des Rechtsterroristen Brenton Tarrant beim Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch im März 2019. Wie Tarrant hatte Balliet den Pkw, mit dem er zur Tat fuhr, mit Waffen und Sprengsätzen beladen, trug eine Helmkamera und ließ Musik zu seinem Morden laufen. Forscher am International Centre for the Study of Radicalization (ICSR) des King’s College London entdeckten Balliets Bekennertext und sein Tatvideo noch am 9. Oktober. ICSR-Gründer Peter Neumann entnahm daraus, dass „der Täter intensiv in rechtsextremen Message-Foren im Internet unterwegs war und sich dort, genauso wie der Christchurch-Attentäter, eine Ideologie zusammengebastelt hat“.
Tatverlauf
Polizeiprotokoll
Nach einem Minutenprotokoll der Polizei Sachsen-Anhalt und darauf basierenden ersten Medienberichten verlief die Tat bis zur Festnahme des Täters zeitlich wie folgt:
Uhrzeit | Täterhandlung | Reaktionen |
---|---|---|
11:54 | Balliet parkt seinen mit vier Schusswaffen und Sprengstoff beladenen Pkw auf einem Parkplatz nahe der Synagoge und beginnt seinen Livestream mit einer Smartphonekamera. | |
11:59 | Er befestigt das Smartphone an einem Helm, setzt ihn auf, startet den Motor und fährt zur Synagoge. | |
12:01–12:07 | Er parkt den Pkw am Straßenrand vor der Synagoge, schießt mehrmals auf deren Türen, wirft Molotowcocktails oder Handgranaten dagegen. | |
12:03 | Er erschießt eine Passantin, die ihn auf die lauten Explosionen ansprach. | Ein Notruf 112 aus der Synagoge schildert den Angriff der Rettungsleitstelle. |
12:04 | Ein Anrufer meldet der Polizeiinspektion Halle das Geschehen. | |
12:05 | Ein Kurierfahrer fragt Balliet nach der am Boden liegenden Frau und flieht, als dieser ihn zu erschießen versucht. | |
12:07 | Er gibt den Angriff auf die Synagoge auf, fährt 500 m zur Ludwig-Wucherer-Straße und hält am Dönerimbiss an. | |
~12:10–12:16 | Er greift den Imbiss mit Sprengsätzen an, schießt auf Passanten und erschießt im Imbiss einen Gast. | |
12:11 | Polizei trifft an der Synagoge ein und findet die bereits tote Frau. | |
ab 12:16 | Er schießt auf Polizisten, trifft einen Streifenwagen, wird im Schusswechsel am Hals verletzt, kann aber einsteigen und wegfahren. | Ein Streifenwagen erreicht den Imbiss und stellt sich quer, um den Täter-Pkw zu blockieren. Nach dem Schusswechsel verfolgt der Wagen ihn, verliert ihn aber rasch aus den Augen. |
12:18 | Balliet fährt nochmals an der Synagoge und der dort befindlichen Polizei vorbei, ohne anzuhalten. | Zeugen hören keine Polizeisirenen. |
12:19 | Polizei verliert den Täter erneut aus den Augen. | |
12:22 | Er fährt Richtung Leipzig und wirft beim Hauptbahnhof sein Smartphone aus dem Beifahrerfenster. | Die Polizei verliert seine Spur. |
13:00 | In Wiedersdorf versucht er einen anderen Pkw zu kapern, verletzt mit Schüssen einen Mann und eine Frau und stiehlt ein Taxi aus einer Autowerkstatt für die weitere Flucht. | Der Polizei wird eine Schießerei in Wiedersdorf gemeldet. |
~13:19 | Die Autobahnpolizei entdeckt das Fluchtauto im Gegenverkehr auf der Bundesautobahn 9 Richtung München. | |
13:25 | Die Polizei in Wiedersdorf findet rund vier Kilogramm Sprengstoff im ersten Fluchtfahrzeug. | |
bis 13:35 | Er fährt auf die Bundesstraße 91, verursacht in einer Baustelle einen Verkehrsunfall mit einem Lkw ohne Verletzte und flieht zu Fuß weiter. | |
13:38 | Zwei Revierpolizisten aus Zeitz nehmen ihn etwa 40 km südlich von Halle bei Werschen (Hohenmölsen) fest. |
Videos
Am 9. Oktober 2019 um 11:57 Uhr, kurz bevor er die Synagoge angriff, kündigte Balliet den Anschlag im Bilderforum „Meguca“ an: Er habe in den letzten Jahren mit einem 3D-Drucker Waffen hergestellt. Wer wolle, könne ihn jetzt bei einem „Live-Test“ beobachten. Dazu setzte er einen Link zu seinem Livestream auf Twitch.
Das Video des Livestreams dauerte knapp 36 Minuten und zeigt den Tatverlauf aus der Perspektive und mit den Kommentaren des Täters. Es half den Ermittlern, den Tatverlauf genau zu rekonstruieren. Balliet stellte sich zu Beginn auf Englisch mit direktem Blick in die Kamera vor: «Hey, my name is Anon. And I think the Holocaust never happened.» („Mein Name ist Anon. Und ich glaube, der Holocaust ist nie passiert.“) „Anon“ ist die Kurzform von Anonymous, die auf der Internetseite 4chan anonym bleibende Nutzer verwenden. Er begann also mit einer Holocaustleugnung und fuhr fort: Der Feminismus sei der Grund für niedrige Geburtenraten im Westen, die zu Masseneinwanderung führten: „Die Wurzel all dieser Probleme ist der Jude“.
Auf der Fahrt zur Synagoge sagte er: Nobody expects the internet SS („Niemand erwartet die Internet-SS“). Zu Beginn der Fahrt hob er lachend ein Gewehr hoch: „Gott, wie lange warte ich da drauf.“ Nach der Ankunft fluchte er über die verschlossene Vordertür: „Fuck! Ach scheiß drauf, vielleicht kommen sie ja raus.“ Er setzte die Waffe ab und zündete einen Sprengsatz an einem anderen, ebenfalls abgeschlossenen Mauertor. Eine Passantin sprach ihn an: „Muss das sein, wenn ich hier lang gehe? Mann, ey.“ Er schoss ihr mehrmals in den Rücken, sie stürzte. Nach weiteren erfolglosen Versuchen, auf das Synagogengelände zu gelangen, sagte er: „Jetzt zünden wir sie an“. Er richtete die Waffe gegen einen Zeugen, der neben der getöteten Frau stand, und drückte ab. Doch die Waffe funktionierte nicht, so dass der Zeuge im Auto entkam. Dann schoss Balliet dreimal auf die Tür in der Mauer, zündete Brandsätze und warf sie über die Mauer.
Sieben Minuten nach Beginn des Angriffs fuhr er weiter und kündigte an, er wolle einige nuts (Verrückte) töten: «And then I die. Like the loser I am.» („Und dann sterbe ich. Wie der Versager, der ich bin.“) Als er den Imbiss sah, sagte er: „Döner. Nehmen wir.“ Dort zündete er einen Sprengsatz und schoss auf einen Mann im Eingang. Dieser versteckte sich darauf hinter Kühlschränken und flehte hörbar: „Bitte, bitte nicht. Ich habe Kinder.“ Andere Personen versteckten sich weiter hinten. Balliet schoss auf den ersten Mann, dessen Stimme verstummte. Nach etwa 90 Sekunden verließ er den Imbiss und schoss auf der Straße auf weitere Menschen, die alle weglaufen konnten. Dann kehrte er in den Imbiss zurück und richtete den schwer verletzten Mann hinter den Kühlschränken mit mehreren Schüssen hin.
Beim Verlassen des Imbisses mit dem Pkw sagte er: „Ich habe auf jeden Fall bewiesen, wie wertlos improvisierte Waffen sind“. Nach dem Schusswechsel mit einem Polizisten, dessen Wagen ihm den Weg versperrte, sagte er während der Fahrt: „Sorry, guys. – Alle Waffen haben versagt, Mann! – Versager! Ich muss aber sagen, ich blute, ich bin angeschossen, irgendwo am Hals. Und ich weiß nicht, ob ich sterbe. Aber ich denke eher nicht. Es tut gar nicht so sehr weh. Aber das ist wahrscheinlich das Adrenalin.“ Nach etwa 28 Minuten sagte er: „So guys, das war's. I’m a complete loser.“ („Ich bin ein kompletter Versager.“)
Während des Streams ließ Balliet im Hintergrund den Rap-Song Powerlevel von Mr. Bond laufen, in dem von einer Masterrace („Herrenrasse“) und dem Neonazisymbol Schwarze Sonne die Rede ist. Die Texte dieses Rappers sind laut dem Rechtsextremismusforscher Bernhard Weidinger „nationalsozialistische Propaganda reinsten Wassers“, inspiriert durch die Ideologie der White Supremacy oder White Power. Nach anderen Berichten lief in Balliets Auto ein Live-Stück von Alek Minassian. Dieser hatte am 23. April 2018 in Toronto mit einem Kleinbus zehn Menschen angefahren und getötet, um nach eigenen Angaben eine Rebellion der „Incels“ zu starten. Vermutet wurde, dass Balliet sich ebenfalls als unfreiwillig im Zölibat, das heißt asexuell lebender Mann betrachtete und daraus eine frauenfeindliche Haltung entwickelte.
Eine Überwachungskamera über der Eingangstür der Synagoge bestätigte den Verlauf aus anderem Blickwinkel und zeigte auch, was nach Balliets Abgang geschah. Er trug einen Kampfanzug mit Helm, Weste und Militärstiefeln sowie mehrere Schusswaffen. In derselben Minute, als er die Passantin erschoss, gingen Notrufe 110 ein, die den Täter, sein Aussehen, seinen Mord, seinen Pkw und dessen Kennzeichen beschrieben. Nachdem der bedrohte Kurierfahrer wegfuhr, passierten mehrere Fahrer das Opfer, ohne anzuhalten. Auf der anderen Straßenseite verteilte ein Briefträger ruhig weiter seine Post. Nur ein Mann ging zu der niedergeschossenen Frau, kniete nieder und berührte sie. Mehrere Passanten standen dabei, manche telefonierten, aber niemand leistete Erste Hilfe. Um 12:11 Uhr kam der erste Streifenwagen. Eine Polizeibeamtin stieg aus, ging nur einmal um die niedergeschossene Frau herum, prüfte ihren Zustand aber nicht. Kein Notarzt erschien. Erst später wurde festgestellt, dass die Frau sofort tot war. Um 12:17 Uhr passierte Balliets Pkw erneut die Synagoge. Die Polizisten vor Ort ließen ihn durch, obwohl schon nach ihm gefahndet wurde und sie zuvor Sperren errichteten. Sie legten erst um 12:19 Schutzkleidung an.
Laut Twitch sahen fünf Personen Balliets Livestream direkt, rund 2200 Personen nachträglich, bis man das Video nach etwa 30 Minuten gesperrt habe. Es erreichte laut Experten bis dahin bereits mehr als 15.600 Nutzer des Messengerdienstes Telegram und wurde zudem auf US-amerikanischen und deutschen Imageboards verbreitet. Nach Recherchen von BuzzFeed glaubten andere Meguca-Benutzer zuerst nicht, dass Balliet einen Terroranschlag vorhatte. Als sie den Livestream bemerkten, fragten sie sofort nach Downloads, legten Sicherungskopien an und teilten diese. Bis zur Sperre setzten Tausende auf Twitter einen Link auf das Video. Auf 4chan verfolgten viele die Ereignisse; manche äußerten sich enttäuscht über die geringe Zahl der Mordopfer und beschimpften jene, die Balliet als Helden und Heiligen feierten. Auf Telegram wurde das Video rasch auf mindestens zehn Neonazikanälen geteilt und der Täter gefeiert. Es erhielt so eine Reichweite von zehntausenden Zuschauern. Laut Experten kann es trotz Strafverfolgung und Sperren großer Anbieter im Netz bleiben und auf neuen oder unentdeckten Plattformen immer wieder auftauchen. Diese Verbreitung beabsichtigte Balliet nach Ansicht des Generalbundesanwalts, indem er Brenton Tarrants Anschlag nachahmte, um selbst Nachahmer zu Anschlägen anzustiften.
Augenzeugen
In der Synagoge waren nach übereinstimmenden Zeugenaussagen seit dem Morgen rund 50 Besucher versammelt, darunter 25 Gäste aus den USA, etwa 20 Gemeindemitglieder und eine Familie mit Kleinkind. Sie wollten den ganzen Tag lang Jom Kippur feiern. Sie hörten mitten in der Tora-Lesung mehrere Explosionen und sahen draußen Rauch. Der Kantor sah auf dem Bildschirm der Überwachungskamera, dass ein bewaffneter Mann in Kampfmontur durch die Vordertür einzudringen versuchte. Er rief sofort: „Alle raus, nach hinten und dann rauf!“ Die Anwesenden begaben sich ohne Panik in den ersten Stock und hielten sich von den Fenstern fern. Einige verbarrikadierten mit Möbeln alle unteren Türen, die aus Holz und nicht gesichert waren. Man sah auf dem Bildschirm die vom Täter erschossene Passantin reglos am Boden liegen. Mehrere verständigten die Polizei. Diese traf erst nach circa 15 Minuten ein.
Der Gemeindevorsteher Max Privorozki hörte und sah, dass Balliet auf die Tür schoss und mit Sprengkörpern einzudringen versuchte. Er meldete mit einem ersten Notruf einen bewaffneten Angriff auf die Synagoge und musste nach Eigenaussage zuerst zeitaufwändig einige Fragen beantworten, bevor die Notrufzentrale reagierte. Er beobachtete den Mord an einer Passantin, den weiteren Mordversuch des Täters und die Ladehemmung seiner Waffe. Nach der Flucht in andere Räume beteten die Gläubigen gemeinsam.
Wegen der unklaren Sicherheitslage durften die Besucher die Synagoge vorerst nicht verlassen. Nach weiteren 50 Minuten gab die Polizei Entwarnung für den Bereich um das Gebäude. Gruppen zu je vier Personen sollten es nun verlassen und Zeugenaussagen machen. Nachmittags wurden alle mit Bussen in ein Krankenhaus gebracht und von einem großen Ärzte- und Pflegerteam versorgt. Abends sprachen sie in der Krankenhauscafeteria das Schlussgebet Neïlah, beendeten das Fasten und feierten mit Speisen, Gesang und Tanz wie geplant, aber zusammen mit dem Krankenhauspersonal. Erst dann wurde vielen klar, dass sie einen Terroranschlag überlebt hatten.
Zwei Studentinnen der Jüdischen Theologie aus Potsdam bestätigten, dass der Raum ohne Panik verlassen und der Gottesdienst bis zur Evakuierung fortgesetzt wurde. Sie lobten das Krankenhauspersonal als „warmherzig, einladend, entgegenkommend und entsetzt darüber, was in ihrer Stadt passiert ist“. Sie dankten ihrem Gott, dass die Tür standgehalten habe, wollten sich weiter für jüdisches Leben in Deutschland einsetzen und die Synagoge in Halle weiter besuchen. Eine Rabbinerin aus den USA hatte die Synagoge auf Einladung der Gemeinde mit ihrem Ehemann und ihrer einjährigen Tochter besucht: „Wir wollten Freude verbreiten, diskutieren, und wir hatten auch tatsächlich sehr schöne gemeinsame Gebete, wir haben sogar getanzt.“ Der Angriff habe mit einem lauten Knall mitten im Gebet begonnen. Beim etwa 20-minütigen Warten auf die Polizei habe niemand gewusst, was ihnen bevorstand. Dann habe man einfach weitergebetet. Sie realisierten erst allmählich, wie knapp sie dem Tod entronnen seien, seien sehr traurig über den Tod zweier Menschen und hätten bereits Kontakt zu Opferangehörigen aufgenommen, um sie zu stärken. Viele Juden in Deutschland hätten nun begründete Angst: „Wir bestehen aber darauf, dass wir Juden nicht weichen, dass wir leben und lebendig unsere Kultur und unseren Glauben ausüben.“
Der Gast Konrad R. sah, wie Balliet vermummt mit einer Granate und einem Gewehr in den Händen auf den Dönerimbiss zustürmte. Als er die Granate warf, sei sie am Türrahmen abgeprallt. Dann habe der Täter durch die Scheibe geschossen. Konrad R. versteckte sich auf der Toilette, erwartete den Tod und rief seine Familie an, um sich zu verabschieden.
Der Verkäufer Rifat Tekin bezeugte, dass Balliet den Imbissladen dreimal betrat: Beim ersten Mal habe seine Waffe versagt. Er habe sich eine neue Waffe aus seinem Auto geholt und damit Kevin S. getroffen. Mit drei Schüssen einer weiteren Waffe habe er ihn dann vollends getötet. Zwei Gäste versteckten sich während der Tat auf der Toilette, zwei andere sprangen durch ein hinteres Fenster nach draußen. Tekin hatte sich hinter der Ladentheke versteckt und floh dann durch die Hintertür. Sein jüngerer Bruder, ebenfalls Verkäufer im Imbiss, kehrte von einem Einkauf zurück. Als Balliet auf ihn schoss, ging er hinter einem Auto in Deckung, bis die Polizei eintraf. Der Anwohner Florian Lichtner beobachtete den Verlauf vom Fenster des Nachbarhauses aus. Der Täter habe ruhig und skrupellos gewirkt, sei nicht gerannt oder in Panik verfallen. Die Polizei sei nach zehn Minuten eingetroffen, seiner Ansicht nach viel zu spät.
Opfer
Die 40-jährige Jana L. wohnte nahe der Synagoge und war auf dem Heimweg, als Balliet sie erschoss. Sie war ein großer Fan von Schlagermusik, saß bei Livekonzerten oft vorn und sammelte Autogramme. Prominente wie Stefan Mross, Ella Endlich und Andrea Berg gaben an, sie gekannt zu haben, und äußerten große Bestürzung über ihren Tod.
Der 20-jährige Kevin S. aus Merseburg war ein Anhänger des Fußballvereins Hallescher FC. Er hatte auf einer Baustelle gearbeitet und seine Mittagspause im nahen Dönerimbiss verbracht. Sein Fanclub „Liberta Crew Chemie Halle“ postete ein Gedenkvideo für ihn auf seiner Webseite. Die Vereinsmannschaft trat bei einem Pokalspiel nach der Tat mit Trauerflor an. Freunde und Bekannte beider Opfer richteten ein Spendenkonto für ihre Familien ein und starteten eine Petition zur Errichtung zweier Gedenktafeln an den Stellen, wo die Morde geschahen.
Zu den angegriffenen Beinahe-Opfern zählten der Kurierfahrer an der Synagoge, die Verkäufer und Gäste im Imbiss und Passanten auf der Straße, deren Leben Balliet mit Handgranaten und Schüssen bedrohte. Er beschoss am Imbiss mindestens drei Passanten und verfolgte zwei davon zu Fuß. Alle konnten unverletzt fliehen.
Jens und Dagmar Z. wurden in ihrem Haus in Wiedersdorf lebensgefährlich verletzt: Balliet schoss Jens Z. in den Nacken, als dieser ihm die verlangten Autoschlüssel nicht gab. Als Dagmar Z. hinzueilte, schoss er auf sie und traf ihren Oberschenkel. Beide überlebten.
Den Kfz-Mechaniker Kai H. in Wiedersdorf bedrohte Balliet mit vorgehaltener Waffe, um das Taxi in seiner Werkstatt als Fluchtwagen zu erhalten. H. führte sein Überleben auf sein deutsches Aussehen zurück.
Täter
Stephan Balliet wurde 1992 in Eisleben geboren. Die Eltern ließen sich in seiner Jugend scheiden. Sein Abitur legte er 2010 am Martin-Luther-Gymnasium Eisleben ab. Dem Schulleiter zufolge war er ein „unauffälliger“ Schüler. Bis 2011 leistete er seinen sechsmonatigen Grundwehrdienst beim Panzergrenadierbataillon 401 in Hagenow. Dort wurde er am Sturmgewehr HK G36 und der Pistole HK P8 geschult. Seine Bundeswehr-Akte enthielt keine Hinweise auf eine rechte Gesinnung. Als 22-Jähriger begann er ein Studium für Chemieingenieurswesen und Chemie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, das er jedoch nach je zwei Semestern abbrach. Danach war er erwerbslos und lebte bei seiner Mutter in Benndorf. Sie soll seinen Lebensunterhalt finanziert haben. Nach ihrer Aussage hatte er als 20-Jähriger mit Drogen experimentiert, war schwer erkrankt und musste operiert werden. Das habe ihn verändert. Danach habe er sich stets in seinem Zimmer eingeschlossen. Manchmal habe er Dinge geäußert wie „Der weiße Mann zählt nichts mehr“. Er habe nichts gegen Juden gehabt, sondern „gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen - wer hat das nicht?“ Verbotene Waffen seien ihr nie aufgefallen. Er habe auf alles geschimpft, etwa auf Greta Thunberg, den Wetterbericht, Frauen in der Politik, Frauen mit farbigen Partnern. Er habe ihr erklärt, es gebe keine Redefreiheit in Deutschland, das sehe man am Verbot der Holocaustleugnung. Er habe den ganzen Tag in seinem Zimmer am Computer verbracht und ihr nicht einmal zum Staubsaugen erlaubt, es zu betreten.
2018 bewarb Balliet sich als Soldat auf Zeit, zog die Bewerbung jedoch 2019 am Tag vor dem Auswahlverfahren zurück. Die Gründe dafür sind unbekannt.
Laut Ermittlern stellte er alle seine Waffen bis auf eine selbst her, etwa mit einem 3D-Drucker. Als Munition benutzte er auch Geldstücke, die er teils mit einem Hakenkreuz markierte. Manche Hülsen beschriftete er mit Worten wie „Hologauge“. Eine Waffe stellte er schon im März 2019 fertig. Das Smartphone für seinen Livestream kaufte er im Juli 2019. Er besaß zudem 45 Sprengkörper, etwa Rohrbomben und Handgranaten. Wie er sie sich beschaffte, war unklar, da sein Konto kaum Eingänge verzeichnete. Die einzige nicht selbstgebaute Waffe besorgte er sich laut Ermittlern schon 2015 im Internet oder im Darknet. Die übrigen Waffen baute er im Geräteschuppen seines Vaters, wenn dieser nicht zuhause war. Er gab an, er habe die selbstgebauten Waffen nur einmal vorher ausprobiert. Wegen deren relativ geringer Durchschlagskraft konnte er offenbar die Tür der Synagoge nicht öffnen.
Auf Festplatten hatte Balliet Adolf Hitlers Pamphlet „Mein Kampf“, Dateien mit Hitlerbildern, Hakenkreuzen und Gewaltvideos gespeichert, darunter ein Video vom Terroranschlag in Christchurch und Videos mit grausamen Morden und Hinrichtungen, etwa des Islamischen Staates.
Balliets Strafverteidiger Hans-Dieter Weber gab an, dass sein Mandant intelligent und wortgewandt, jedoch sozial isoliert sei. Zum Tatmotiv äußerte er: „In seinem Weltbild ist es halt so, dass er andere verantwortlich macht für seine eigene Misere und das ist letztendlich der Auslöser, für dieses Handeln – und natürlich Taten, die es in der jüngeren Vergangenheit gegeben hat.“
Am 10. Oktober vor dem Ermittlungsrichter räumte Balliet die ihm vorgeworfenen Taten ein und gab als Motiv eine „judenkritische Einstellung“ an. Er bestritt jedoch, Nationalsozialist zu sein. Sein Verteidiger fasste zusammen: „Man muss nicht Neonazi sein, um Antisemit zu sein.“ Balliet erklärte ferner, er habe aus „Überforderung“ nach dem Scheitern seines Anschlags auf die Synagoge wahllos auf andere geschossen: „Ich habe Menschen getötet, die ich nicht treffen wollte.“
In vier langen Verhören erklärte Balliet, er habe nach einem sehr guten Abitur Chemie in Halle studiert, aber nach einer schweren Operation das Studium abgebrochen, dann fünf Jahre lang nur von Zuwendungen seiner Mutter gelebt und sich zuhause in seinem Zimmer isoliert. Er beschrieb sich selbst als sozial unbeholfen mit autistischen Zügen. Für all das gab er „den Juden“ die Schuld, die ihn „aus seinem Leben drängen“ würden. Dann habe er sich jahrelang im Netz anonym auf Imageboards mit Gleichgesinnten getroffen. Sie hätten sich gegenseitig in ihrem Juden- und Frauenhass bestärkt. So habe er sich radikalisiert. Die Flüchtlingsankunft von 2015 sei für ihn eine „Zäsur“ gewesen. Er habe entschieden, sich zu bewaffnen: Wenn keiner etwas tue, dann müsse er es tun. Er habe sich für einen Anschlag gegen Juden entschieden, denn diese seien für „unzufriedene weiße Männer“ wie ihn das größte Problem. Auf die Frage, ob er Juden kenne, antwortete er, auch ohne sie zu kennen habe er sich eine Meinung über sie gebildet. Er sei zwei Mal an der Synagoge in Halle vorbeigegangen, um den Ort auszuspähen, und habe geglaubt, die Tür werde am Jom Kippur offen stehen. Sein Vorbildsei Brenton Tarrant, den Attentäter von Christchurch: Über ihn habe er alles gesammelt und gespeichert. Nach dessen Attentat habe er begonnen, sich zu bewaffnen. Sechs Monate später habe er beschlossen, wie Tarrant ein Massaker zu begehen, jedoch an Juden: Diese sah er als Ursprung allen Übels, der Flüchtlingskrise, der Emanzipation der Frauen und seiner eigenen Erfolglosigkeit. Aus Frust über das Scheitern seines Plans, in die Synagoge einzudringen, sei er auf „Nahöstler“ in dem Dönerladen ausgewichen. Als er die deutschen Namen seiner Opfer hörte, habe er bedauert, Deutsche statt Migranten getötet zu haben.
Ermittlungen
Die Polizei vermutete anfangs mehrere Täter und rief die Bevölkerung in Halle und Landsberg auf, zuhause zu bleiben. Die Stadt Halle sprach von einer Amoklage und berief einen Stab für „Außergewöhnliche Ereignisse“ ein.
Weil die Tat als staatsgefährdend eingestuft wurde, übernahm Generalbundesanwalt Peter Frank die Ermittlungen. Er sah schon am 10. Oktober 2019 genug Anhaltspunkte für einen rechtsextremen Tathintergrund. Balliet habe mit einem Akt des Terrors aus Fremdenhass und Antisemitismus eine weltweite Wirkung erzielen wollen. In seinem Auto seien vier Kilo Sprengstoff in zahlreichen Sprengvorrichtungen sichergestellt worden. Bundesinnenminister Horst Seehofer ging von einem zumindest antisemitischen Angriff aus und schloss sich dem Generalbundesanwalt an.
Auf dessen Antrag erließ der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof am 10. Oktober 2019 einen Untersuchungshaftbefehl. In einer ersten Vernehmung erklärte Balliet, dass er gezielt Juden ermorden wollte, und behauptete, er habe andere Passanten aufgrund „Überforderung“ getötet und verletzt. Er habe ganz allein gehandelt und seine Waffen aus einfachen preisgünstig eingekauften Mitteln selbst hergestellt. Einmal habe ihm ein unbekannter Dialogpartner aus dem Internet 0,1 Bitcoin (zur Tatzeit rund 750 Euro) gespendet. Er habe die Tat seit Frühjahr 2019 geplant. Das antimuslimische Massaker von Christchurch vom März 2019 sei „eine Art Initialzündung“ für seine Mordpläne gewesen. Danach begann er mit konkreten Vorbereitungen und verfasste auch den ersten Teil seiner Bekennertexte.
Am 14. Oktober 2019 durchsuchten Ermittler des Bundeskriminalamts (BKA) eine Wohnung in Mönchengladbach, von der aus Balliets „Manifest“ zeitnah zum Anschlag im Internet hochgeladen worden war. US-Behörden hatten dem BKA die IP-Adressen des fraglichen Computers übermittelt. Zwei Bewohner stehen im Verdacht, dass sie von Balliets Terrorplan wussten. Gegen sie wird wegen möglicher Volksverhetzung ermittelt. Einer der Männer bestritt, Balliet zu kennen, und soll seinen PC schon am 12. Oktober der Polizei ausgehändigt haben. Bis zum 16. Oktober stellte die Bundesregierung ein Rechtshilfeersuchen an die USA für Informationen über amerikanische Betreiber von Internetplattformen, über die der Livestream angeschaut und verbreitet worden war. Gesucht wurden drei Personen, die Balliets Morden im Internet auf Twitch tatenlos zuschauten. Sie hatten IP-Adressen in den USA und der Schweiz. Ob sie tatsächlich dort lebten oder Tarnprogramme nutzten, war jedoch unklar.
Am 13. November 2019 riefen Bundesanwaltschaft und BKA noch unbekannte Zeugen dazu auf, ihre Beobachtungen mitzuteilen, um „die lückenlose Aufklärung des Tatgeschehens“ zu ermöglichen.
Reaktionen
Kritik an der Polizei
Am 9. Oktober 2019 kritisierte der Gemeindevorsteher Max Privorozki, die Polizei sei nach seinem klaren Notruf zu spät vor Ort eingetroffen. Zudem habe sich die Gemeinde mehrfach für jüdische Einrichtungen in Sachsen-Anhalt Polizeischutz wie in Großstädten üblich gewünscht. „Aber uns wurde immer gesagt: Alles ist wunderbar, alles ist super, alles ok.“
Eine Augenzeugin bestätigte, die Polizei habe auf Bitten um Schutz für die Beter immer nur geantwortet: „Es liegt keine akute Bedrohung vor.“ Der eigene Sicherheitsmann sei nicht dafür ausgebildet, kein Besucher sei bewaffnet, die Holztür anders als in Großstädten nicht besonders gesichert, die Fenster nur aus normalem Glas gewesen: „…der Täter hätte nur hineinschießen müssen, schon wäre er drinnen gewesen und hätte ein Blutbad angerichtet.“ Es sei reines Glück gewesen, dass seine Handgranaten weder die Türen öffneten noch die Sukka in Brand setzten. „Es ist ein Wunder, dass wir überlebt haben. Es war wirklich ganz, ganz knapp.“ Nach dem Eintreffen vor Ort habe die Polizei „professionell, freundlich und rücksichtsvoll“ agiert.
Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, nannte den fehlenden Polizeischutz für die Synagoge Halle am Jom Kippur „skandalös“: „Diese Fahrlässigkeit hat sich jetzt bitter gerächt.“ Die Behörden in Sachsen-Anhalt hätten die Lage falsch eingeschätzt. An den meisten deutschen Synagogen stehe bei Gottesdiensten ein Polizeiposten. Der äußerst brutale Angriff am höchsten jüdischen Feiertag sei „für alle Juden in Deutschland ein tiefer Schock“ und habe „unsere Gemeinschaft auf das Tiefste in Sorge versetzt und verängstigt“. Er sprach den Angehörigen der Mordopfer und den Verletzten sein Mitgefühl aus.
Auch Vertreter jüdischer Gemeinden anderer Bundesländer verwiesen darauf, dass ihre Einrichtungen selbst an Feiertagen nicht geschützt wurden. Katarina Seidler vom Landesverband der israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen sagte: „So etwas wie in Halle kann jeden Tag überall passieren.“ Barbara Traub, Vorstandssprecherin für die Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs, sagte, man habe einen derartigen Anschlag hierzulande schon lange für möglich gehalten und tausche sich deshalb mit den Sicherheitsbehörden ständig aus. Trotzdem müsse der Schutz besonders für kleine Gemeinden erhöht werden. Schusters Amtsvorgängerin Charlotte Knobloch mahnte: An der Notwendigkeit von Polizeischutz für alle jüdischen Einrichtungen dürfe es „keinen Zweifel mehr geben, nirgends in Deutschland“.
Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht widersprach Privorozki: Die Synagoge sei gemäß der Gefährdungsbewertung des BKA täglich und regelmäßig bestreift worden. Es habe keinen konkreten Hinweis auf einen Anschlag gegeben. Zudem seien in den letzten fünf Jahren keine Straftaten mit Bezug zur Synagoge begangen worden. Es habe auch regelmäßigen, engen Kontakt mit der jüdischen Gemeinde gegeben. Man sei allen Schutzersuchen nachgekommen. Für den Feiertag Jom Kippur sei keine Bitte der jüdischen Gemeinde bei der Polizei eingegangen. Ob ein Streifenwagen vor der Synagoge den Täter davon abgehalten hätte, Menschen zu töten, sei rein spekulativ. Dieser wäre dann wohl weitergefahren und hätte den Anschlag höchstwahrscheinlich anderswo verübt. Den Mord im Döner-Imbiss hätte eine Polizeistreife vor der Synagoge wohl nicht vereiteln können.
Josef Schuster widersprach und nannte Stahlknechts Rechtfertigung „irritierend“. Die Polizei sei den Bitten der jüdischen Gemeinde Halle keineswegs stets nachgekommen. Diese Angabe sei „unzutreffend und verkehrt die Realität in der Vergangenheit“. Er bezweifle Stahlknechts Bereitschaft, „aus begangenen Fehlern Lehren zu ziehen und strukturelle Änderungen bei den Sicherheitsbehörden vorzunehmen“.
Horst Seehofer, Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff, Holger Stahlknecht und Polizeisprecher des Landes versprachen in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Vertretern der jüdischen Gemeinde, sich dafür einzusetzen, dass so etwas nicht mehr geschehe, und kündigten Schutzmaßnahmen an.
Nach der Bekanntgabe des Überwachungsvideos am 7. Februar 2019, das das Polizeiverhalten belegte, wurde ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt. Er soll unter anderem mögliche Fehler im Polizeieinsatz untersuchen und die Ursachen aufklären.
Bis Mitte November 2019 erhöhte die Polizei fast aller Bundesländer Schutz und Präsenz für Synagogen und andere jüdische Einrichtungen. Hessen erhöhte auch die Haushaltsmittel dafür. Lokale Gespräche mit jüdischen Gemeinden, etwa zu baulich-technischen Sicherheitsfragen, wurden intensiviert. Josef Schuster nannte diese Schritte „überfällig“.
Politik
Bei einer Gedenkveranstaltung zum 30. Jahrestag der friedlichen Revolution in Leipzig sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von erschütternden Nachrichten. Ein derartiger Angriff auf eine Synagoge in Deutschland sei bis zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vorstellbar gewesen. Er rief zur Solidarität mit den jüdischen Mitbürgern auf. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach den Angehörigen der Opfer ihr Beileid aus. Die Antisemitismusbeauftragten von Bund und Ländern stellten gemeinsam heraus, es müsse jetzt darum gehen, „als Gesellschaft zusammenzustehen, zerstörerischen Tendenzen entschlossen entgegenzutreten, und zu zeigen: Das Judentum gehört zu uns, das war ein Angriff auf uns alle“.
Zivilgesellschaft
Der Dachverband islamischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt, der türkische Islamverband Ditib und der Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM) verurteilten den Anschlag. Der Ditib-Vorsitzende Kazim Türkmen erinnerte daran, dass auch Muslime in Deutschland vermehrt Drohungen und Anfeindungen ausgesetzt seien, und forderte „ein gemeinsames Zeichen […] gegen jede Form von Menschenfeindlichkeit“. Einzeltätertheorien könnten nicht mehr davon ablenken, dass „das gesellschaftliche Klima zunehmend durch rechtes Gedankengut vergiftet wird, und gerade im Internet bedrohliche Maße längst überschritten hat“.
Bereits am Abend des 9. Oktober 2019 versammelten sich hunderte Bürger vor der Synagoge und solidarisierten sich mit den Opfern. Am 11. Oktober 2019 kamen in Halle Tausende zu einem großen Gedenkkonzert „für ein offenes und friedliches Miteinander und eine Botschaft gegen Antisemitismus“. In mehreren Städten demonstrierten am 9. Oktober 2019 spontan hunderte Menschen Solidarität mit der Jüdischen Gemeinde in Halle. Am 11. Oktober zum Beginn des Sabbats versammelten sich mehr als 1.000 Menschen zu einer Menschenkette vor der Synagoge in Halle. Auch in vielen anderen Städten gab es Mahnwachen, Menschenketten, Kundgebungen und Gedenkgottesdienste.
Kritik an der AfD
Am Tag nach dem Anschlag mahnte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus an. Dazu gehöre neben dem rechtzeitigem Aufspüren von Gewalttätern, die „geistigen Brandstifter“ zu benennen. Zu diesen zählte er „einige Vertreter der AfD“. Namentlich Björn Höcke gehe es darum, „wieder mehr Antisemitismus in unserem Land zu verbreiten.“ Ähnliche Kritik äußerten Karin Prien (CDU), Karl Lauterbach (SPD), Rolf Mützenich (SPD) und andere. Michael Roth (SPD) sagte am 11. Oktober 2019, die AfD sei „der politische Arm des Rechtsterrorismus im Bundestag“ und verwies dazu auf verschiedene rassistische Aussagen von AfD-Vertretern.
AfD-Vertreter wie Alice Weidel und Alexander Gauland wiesen die Kritik als „haltlose Diffamierungen“ und Instrumentalisierung zurück. Sie nannten die Tat ein „entsetzliches“ oder „monströses Verbrechen“ eines Einzeltäters. Der Berliner AfD-Vorsitzende Georg Pazderski sagte, eine„Eskalation“ wie in Halle sei absehbar gewesen, weil die „fatale Politik“ der anderen Parteien „Antisemiten duldet und teilweise sogar hofiert“. Er nannte den jährlichen islamistischen al-Quds-Tag in Berlin und einen „Messermann“, der die Neue Synagoge (Berlin) angegriffen habe. Gemeint war ein Syrer, der Anfang Oktober 2019 erfolglos mit einem Messer in das Gebäude eindringen wollte und am Folgetag freigelassen wurde, weil die Staatsanwaltschaft nur einen versuchten Hausfriedensbruch sah. Der diskriminierende Ausdruck „Messermänner“ wurde im Rechtspopulismus als Synonym für gewalttätige Einwanderer oder allgemein für Geflüchtete etabliert, um die Gleichsetzung „Flüchtling = Messermann“ im Massenbewusstsein zu verankern.
Der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner verbreitete am 11. Oktober 2019 einen Tweet, der die Mordopfer als „Deutsche, die gerne Volksmusik hörte“ bzw. als „Biodeutschen“ bezeichnete und rhetorisch fragte: „Warum lungern Politiker mit Kerzen in Moscheen und Synagogen rum?“ Zudem kommentierte Brandner ein Bild des jüdischen Publizisten Michel Friedman, der sich zum Anschlag geäußert hatte, mit verächtlichen Hashtags („#PaoloPinkel“, „#Koksnase“, „#Zwangsfunk“). Daraufhin forderten der Deutsche Anwaltverein (DAV), der Deutsche Juristinnenbund (djb) und Vertreter aller übrigen Bundestagsfraktionen, Brandner müsse seinen Vorsitz im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages abgeben oder ausgeschlossen werden.
Am 11./12. Oktober 2019 behauptete der sächsische AfD-Landtagsabgeordnete Roland Ulbrich, ein Fachanwalt für Strafrecht, auf seiner Facebook-Seite: „Es liegt noch nicht einmal der Versuch eines Tötungsdelikts an den Besuchern des Gottesdienstes in der Synagoge vor.“ Er fragte, was „schlimmer“ sei, „eine beschädigte Synagogentür oder zwei getötete Deutsche“, und bezeichnete den Anschlagsversuch als „Sachbeschädigung“. Die Stellungnahme sei eine „Auflockerungsübung“ für juristisches Argumentieren im Prozessrecht. Auf Nachfrage erklärte er, der Täter müsse nur für seine Tat bestraft werden, seine Gesinnung sei „völlig irrelevant“. Tausende Kommentare dazu verurteilten Ulbrichs Sicht als antisemitisch, weil er zwischen Juden und Deutschen unterschied, die Mordabsicht und Motive des Täters leugnete. Der Abgeordnete Volker Beck (Bündnis '90/Grüne) sagte mit Blick auf die vorherigen Aussagen aus der AfD: „Die angeblich pro-jüdische AfD kann ihre Verachtung für Jüdinnen und Juden und ihre antisemitische Kumpanei nicht im Zaum halten. […] Roland Ulbrich arbeitet mit an dem antisemitischen Klima, das das Leben und die Freiheit von Juden in Deutschland bedroht.“ Levi Salomon vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus fand Ulbrichs Verharmlosung antisemitischen Terrors zur Sachbeschädigung nicht verwunderlich, da er schon bei den ersten „Merkel-muss-weg“-Demonstrationen alle drei Strophen der Nationalhymne zu singen gefordert hatte.
Mehrere AfD-Ortsverbände bestritten Balliets erklärte Motive. Die AfD Nürnberg behauptete tatsachenwidrig, er bestreite „jedes rechtspolitische Motiv“ und habe sich auch „nicht rechtspolitisch radikalisiert“. Dies sei „Wunschdenken“ von Ermittlern, Politik und Medien. Gegenbelege wurden verschwörungstheoretisch umgedeutet: „B. anonym gekauft?“ Die AfD Salzgitter behauptete in Frageform ein „Polizeiauto, das sonst an sieben Tagen die Woche rund um die Uhr die Synagoge in Halle bewacht“. Es sei auf Befehl „von ganz oben“ „abgezogen“ worden. Dieser Ortsverband hatte im September 2017 gejubelt, die „AfD habe erfolgreich den Bundestag gestürmt“, nun beginne „die nächste Phase im Krieg gegen dieses widerwärtigste System, das je auf deutschem Boden existierte“. Dagegen erinnerte der Politikwissenschaftler Daniel Köhler, ein international anerkannter Experte für Rechtsterrorismus, an seit langem bekannte Zusammenhänge zwischen solcher öffentlichen Hetze und Gewalttaten.
Die NPD und die Partei Der III. Weg distanzierten sich von dem Anschlag, weil sie laut Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) befürchteten, staatliche Stellen könnten ihr Vorgehen gegen sie andernfalls verschärfen.
Medien
Ferdinand Otto (Die Zeit) kritisierte in der Annegret Kramp-Karrenbauers Verwendung des Wortes „Alarmzeichen“ als „ziemliche Verharmlosung“. Er stellte auch die Frage, warum Frank-Walter Steinmeier den Anschlag für „unvorstellbar“ hielt. Deutsche Juden könnten sich „so ein Szenario durchaus vorstellen“. Sie würden jeden Tag an so eine Möglichkeit erinnert, „wenn sie an bewaffneten Polizeibeamten und Sicherheitstüren vorbeimüssen, um zur Schule zu gehen oder zum Gottesdienst“.
Auch Hanning Voigts (Frankfurter Rundschau; FR) beanstandete diese Wortwahl von Politikern und wies darauf hin, dass der Angreifer, der mit dem beruhigend klingenden Wort „Einzeltäter“ tituliert werde, „offensichtlich Teil des völkischen Diskurses“ sei, der „in Zeiten des gesellschaftlichen Rechtsrucks nicht mehr nur in der klassischen Neonazi-Szene gepflegt“, sondern „auch von manchem AfD-Politiker in die Talkshows getragen“ werde. In Bezug auf den häufig nach solchen Ereignissen verwendeten Satz „Wehret den Anfängen“ stellte Voigts fest, solange sich Deutschland 2019 der Illusion hingebe, „es gelte nur, irgendwelchen Anfängen zu wehren“, habe der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus „noch nicht einmal begonnen“.
Laut Christian Bangel (Die Zeit) benutzte der Mörder von Halle trotz aller anschließenden Distanzierungen der Rechten deren Worte, Argumente und Erzählungen. Bangel nennt insbesondere die rechten Narrative vom „Genderwahn“ und dem „Großen Austausch“ sowie die AfD-Argumentationsstrukturen, die Anknüpfungspunkte für klassische antisemitische Denkmuster böten. Er kritisiert des Weiteren die Behauptung (auch innerhalb bürgerlicher Milieus), der Antisemitismus sei ein Problem der Zuwanderung, als Versuch, den Judenhass „zu ethnisieren und ihn damit weit weg von der weißen deutschen Bevölkerung zu halten“.
Gregor Peter Schmitz (Augsburger Allgemeine) befand, dass der nach dem Holocaust Staatsräson gewordene Satz „Nie wieder!“ für jede Form von Antisemitismus gültig bleiben müsse, nicht weil das Ausland auf uns schaue, sondern „weil wir Deutschen uns sonst nicht mehr in die Augen schauen können“.
Klaus Hillenbrand (Die Tageszeitung; taz) zufolge habe sich gezeigt, „dass der Judenhass keine Entgleisung ist, über die man auch einmal hinwegsehen kann, sondern dass ihm der Mord innewohnt“. Ebenso wichtig wie die Arbeit der Sicherheitsbehörden sei es, „schon die Anfänge judenfeindlichen Denkens zu bekämpfen, sei es in der Schule oder im Betrieb“. Wie Matthias Drobinski (SZ) feststellte, würden Juden in Deutschland von rechten Antisemiten und von Islamisten attackiert. Beide Szenen bezögen „ihre Ideologie und ihr mörderisches Know-how aus einem weltweiten Netz der Gesinnungsgenossen“. Gleichzeitig wolle ein zunehmender Teil der Bevölkerung „dem deutschen Schuldkult und dem angeblich allgegenwärtigen jüdischen Einfluss auf der Welt“ ein Ende setzen. Das Fehlen einer Polizeiwache vor der Synagoge in Halle sei der „Bruch des staatlichen Versprechens an die jüdischen Gemeinden: Wir schützen euch“ gewesen. Jüdisches Leben, „das nur noch in der Nische stattfinden könnte, wäre eine Schande für das Land“.
Markus Decker (Leipziger Volkszeitung; LVZ) nannte es einen Irrtum, Antisemitismus nur noch auf der islamistischen Seite zu vermuten, denn er sei „nach wie vor auch da, wo er immer war: rechts außen“. Wer den Ernst der Lage nach den Ereignissen in Halle nicht begreife, dem sei nicht zu helfen, stattdessen müsse man „klammheimliche Sympathien vermuten“.
Hajo Schumacher (Berliner Morgenpost) spielte auf die RAF der 1970er-Jahre an und meinte, auch Rechtsterroristen dürften sich „dem teuflischen Wohlwollen jener Sitzenbleiber in den Parlamenten so sicher sein wie dem der Ideologen, die das Land so stressen wollen, bis vor lauter Angst der letzte Anstand schwindet. Wenn Offiziere Waffen horten, wenn Irre Todeslisten anlegen, wenn der ‚Fliegenschiss‘ belächelt wird, wenn Hakenkreuz-Schläger durch Innenstädte ziehen, wenn Politik, Armee, Behörden unterwandert, Landstriche arisiert, Anleitungen zum Bombenbau verbreitet werden, dann ist wieder Herbst in Deutschland“.
Die israelische Tageszeitung Haaretz ordnete diese Taten als „eine globale, rassistische White-Supremacy-Ideologie“ ein. Die Täter seien „einheimische weiße Männer voller Feindseligkeit und Frustration, angestachelt nicht nur von rechtsextremen Internetseiten und Literatur, sondern auch von angeblichen Mainstream-Politikern, allen voran Präsident Donald Trump.“ La Repubblica (Italien) sprach von der „schwersten Bedrohung unserer Demokratien“, die anders als der islamistische Terrorismus „die Frucht von etwas [sei], das im Tiefen der europäischen Gesellschaft lebt und das rasch die Antikörper abtötet, die sich nach dem Blutbad des Zweiten Weltkriegs entwickelt haben“.
Mathias Döpfner (Die Welt und Vorstand der Axel Springer SE) verwies dagegen auf andere antisemitische Vorfälle, mutmaßlich begangen von Arabern. In diesen Kontext stellte er auch eine von der Bildzeitung vermutete Identitätstäuschung des Fußballprofis Bakery Jatta. Er beklagte weiter „eine vitale Fremdenfeindlichkeit, deren Umgang damit derzeit wie ein Brandbeschleuniger wirke“, und sah als Hauptursache dafür eine „rechtsstaatlich sehr zweifelhafte Flüchtlingspolitik“, „eine unterbesetzte Polizei“, „eine mit kriminellen Zuwanderern überforderte Justiz“ sowie eine „politische und mediale Elite.“ Weiter spannte er den Bogen bis zu Umweltschutzbewegungen, die „eine Mahnwache vor einer Synagoge hätten abhalten sollen.“ Abschließend äußerte er, dass er „nicht in einem Land leben möchte, in dem Mitbürger aufgrund ihrer Hautfarbe oder weil sie Juden sind, umgebracht werden.“ Das Hamburger Abendblatt kritisierte den von Döpfner hergestellten Zusammenhang zwischen Rechtsterrorismus und vermuteter Identitätstäuschung als „wirre Gedanken“.
Laut Richard C. Schneider (Die Zeit) macht sich immer mehr „Schamlosigkeit“ breit, nicht nur „bei Rechtsextremen und Neonazis, nicht nur bei rassistischen Linken, die in ihrem Hass auf Israel gerne antisemitische Klischees benutzen und nicht merken, dass sie keinen Deut besser sind als ihre NS-Vorfahren“. Der Antisemitismus sei „längst wieder in der Mitte der Gesellschaft“, wo er auch nie weg gewesen sei. Schneider zufolge glauben und reden „Bildungsbürger, Intellektuelle, Lehrer […] denselben Unsinn wie der Attentäter“, nur „sprachlich etwas gewählter und nicht mit der Absicht, am nächsten Tag loszuziehen und Juden in einer Synagoge oder sonst wo zu ermorden“. Das größte Problem sei, dass „Auschwitz“ zur „Messlatte für Judenhass“ gemacht worden sei, und alles, was angeblich „weniger schlimm“ sei, habe „jahrzehntelang sozusagen unten durchspazieren“ können. Mit Verlogenheiten wie dem Begriff „judäo-christliche Kultur“, der nicht bedeute, dass Juden nun dazugehörten, sondern der besage, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre, würde auch Juden deutlich gemacht, dass sie nicht wirklich dazugehörten, sondern eine Minderheit gegen eine andere ausgespielt werde. Dadurch fühlten sich auch die „Ränder“ bestätigt, da sie wüssten, dass auch in der Mitte der Gesellschaft solches Gedankengut existiere.
Johannes Boie (Die Welt) berichtete, dass Max Privorozki, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Halle, nach einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung im November 2019, in dem er bekannte, ans Auswandern zu denken, auf Facebook und Twitter massenhaft antisemitisch beleidigt worden sei; ebenso habe Privorozki im Anschluss an einen Bericht des MDR über diese Beleidigungen erneut hämische Kommentare erhalten. Boie zog aus diesen (und anderen) Vorkommnissen den Schluss, Europa sei „krank“ und Besserung nicht in Sicht.
Wissenschaft
Der Politikwissenschaftler Matthias Quent hob hervor, dass der Täter Teil eines großen virtuellen Netzwerks gewesen sei. Dass er die Tat live streamte und dabei in bruchstückhaftem Englisch sprach, zeige die Wichtigkeit dieser rechtsextremen „Internationale der Menschenhasser“ für ihn. Vor allem wegen der rechtsextremen Subkultur im Internet sei es schwierig, solche Taten zu vermeiden. Laut Quent spielte für den Täter das Konzept des „einsamen Wolfes“, welches der amerikanische White Supremacist Tom Metzger in den Neunzigerjahren propagierte, eine wesentliche Rolle. Rechtsradikale sehen darin einen „allein handelnden Attentäter, der Angst und Schrecken verbreitet, Minderheiten vernichtet und schließlich einen Bürgerkrieg anzettelt.“
Der Historiker und Antisemitismusforscher Uffa Jensen sieht mangelnde Aufklärung in Schulen sowie Radikalisierung im Internet als zwei grundlegende Probleme in Deutschland, die letztlich auch zu einer solchen Tat wie in Halle führten. Antisemitismus werde oft mit Nationalsozialismus gleichgesetzt, „während man sehr wenig über Antisemitismus und Rassismus und Vorurteile selber“ spreche. Hierbei müsse sehr viel mehr getan werden.
Der Politikwissenschaftler Gideon Botsch wies darauf hin, dass die zunehmende Bedrohung für Juden Normalität sei, und zeigte sich „verblüfft darüber, wie wenig unsere Warnungen ernstgenommen werden und in Sicherheitskonzepte einfließen“.
Aufarbeitung und Gedenken
Tage nach dem Anschlag beschloss die Jüdische Gemeinde Halle, die lebensrettende Eingangstür der Synagoge als Mahnmal zu erhalten. Sie soll gegen eine noch solidere Sicherheitstür ausgetauscht werden. Die Videoanlage, über die die Gemeinde den Täter und sein Vorhaben sehen und daher fliehen konnte, war erst wenige Jahre zuvor eingebaut worden.
Am 9. November 2019, dem Jahrestag der Novemberpogrome 1938, verwies der Gemeindevorsitzende Max Privorozki auf Bezüge zwischen der Reichspogromnacht und dem Anschlag. Antisemitismus werde in Deutschland „mit großer Geschwindigkeit immer krasser“. Es sei nicht mehr peinlich, sich offen als Antisemit zu zeigen. Es sei traurig, dass Juden den Alltag hinter Gittern und Schutzmauern verbringen müssten. Ohne diese Maßnahmen sei ungewiss, ob die jüdische Gemeinschaft hier noch eine Zukunft habe. Seit einigen Jahren fühle er sich nicht mehr wohl in seiner Stadt und fange gedanklich langsam an, nach besseren Orten zu suchen.
Josef Schuster riet Juden in Deutschland, kühl zu bleiben und sich trotz schwieriger Situation nicht zu verstecken. „Die Politik hätte sich auf allen Ebenen früher und nachhaltig den rechtsextremen Tendenzen entgegenstellen müssen“.
Nach einer im Islam üblichen Trauerzeit von vierzig Tagen wurde der Dönerimbiss am 15. November 2019 wiedereröffnet. Am Vortag hatte der bisherige Betreiber Izzet Cagac den Imbiss den beiden Mitarbeitern geschenkt, die beim Anschlag dort Dienst hatten. Er wollte ihnen damit helfen, das Geschehen zu verarbeiten. Nach seinen Angaben besuchten 1700 bis 2000 Menschen den Imbiss zur Wiedereröffnung.
Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand kündigte zum Jahresende 2019 an, der Ausstellungsbereich zum jüdischen Leben im Stadtmuseum Halle werde um das Anschlagsgeschehen erweitert.
Die Opferangehörigen, Verletzten und Augenzeugen des Anschlags erhielten von mehreren Seiten therapeutische und finanzielle Hilfen. Das Bundesjustizministerium zahlte bis Januar 2020 insgesamt 355.000 Euro Soforthilfe an 59 Betroffene aus und stellteHärteleistungen in Aussicht. Die Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt beriet die Betroffenen mit Gesprächen, vermittelte psychologische, amtliche und finanzielle Hilfe. In zwei Monaten seit der Tat erhielten die Opferfonds des Vereins „Miteinander e.V.“ und des Verbandes der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. insgesamt mehr als 8000 Euro Spenden, die für Erholungs- und Fahrtkosten der Opferangehörigen sowie einige Festkosten des Imbisses verwendet wurden. Dieser musste enorme Einnahmeausfälle bis zur Wiedereröffnung ausgleichen. Für Anwalts- und Prozesskosten werden weitere Spenden gesammelt. Der Weiße Ring erhielt 31.000 Euro Spenden, etwa aus Versteigerungsaktionen der Profisportvereine Halles.
Siehe auch
- Liste von Anschlägen auf Juden und jüdische Einrichtungen im deutschsprachigen Raum nach 1945
- Rechtsextremismus im Internet
Literatur
- Andreas Speit, Jean-Philipp Baeck (Hrsg.): Rechte Egoshooter: Von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat. Christoph Links, Berlin 2020, ISBN 3-86284-471-4, S. 23–25, S. 38f., 67f. und öfter
- Karolin Schwarz: Hasskrieger: Der neue globale Rechtsextremismus. Herder, Freiburg 2020, ISBN 3-451-82001-3, S. 129
- Andre Oboler, William Allington, Patrick Scolyer-Gray: Hate and Violent Extremism from an Online Sub-Culture: The Yom Kippur Terrorist Attack in Halle, Germany. Online Hate Prevention Institute, Dezember 2019, ISBN 978-0-6487426-0-9