Norbert Leygraf
Quick Facts
Biography
Norbert Leygraf (* 1953 in Büderich) ist ein deutscher Mediziner und forensischer Psychiater. Er ist Direktor des Instituts für forensische Psychiatrie des LVR-Klinikum Essen, Kliniken und Institut der Universität Duisburg-Essen und zudem als Gutachter tätig.
Leben
Leygraf studierte Medizin an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und arbeitete als wissenschaftlicher Assistent und Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie sowie der Neurologie.
Forschungsgebiet ist seit 1979 die forensische Psychiatrie. Insbesondere beschäftigte sich Leygraf mit krankhaften Diebstahlshandlungen und der Glücksspielsucht. Zwischen 1984 und 1986 betreute er ein Forschungsprojekt über psychisch krankhafte Straftäter in der Bundesrepublik.
1991 wurde er Universitätsprofessor und Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie des LVR-Klinikum Essen, Kliniken und Institut der Universität Duisburg-Essen in Essen. Leygraf ist zudem Gutachter bei Strafverfahren und Entlassungen aus dem Maßregelvollzug oder der Haft. Er gilt als renommierter psychiatrischer Begutachter, der unter anderem im Prozess um Magnus Gäfgen beauftragt wurde. Er trat auch im Mordfall von Witten, Mordfall Jessica, im Fall des Attentäters Arid Uka, des Hochstaplers Gert Postel und im Betrugsfall Reiner Protsch gutachterlich in Erscheinung.
Leygraf ist seit 2002 für die katholische Kirche zur Beurteilung einzelner Geistlicher tätig. Leygraf leitete eine Studie für die katholischen Bistümer in Deutschland, die im Dezember 2012 vorgestellt wurde; er stellte fest, „dass eine spezielle Störung im Bereich der Sexualität, also das, was man in der Psychiatrie eine Pädophilie nennt, nur in Ausnahmefällen vorlag. Die Ursachen für diese Taten waren oft eher berufliche Krisen, Gefühle der Einsamkeit, soziale Isolation oder eine Nähe-Distanz-Problematik. (...) Wenn es eine pädosexuelle Orientierung gibt, ist es vorbei. Dann kann man so jemanden nicht mehr in der Kirche arbeiten lassen. Auch dort muss man aber sehen, dass man für ihn sorgen muss. Wenn er völlig ins Bodenlose fällt, ist die Rückfallgefahr viel größer. Deshalb sollte man ihn in einem System halten, wo er unterstützt und kontrolliert wird.“
Über politisch motivierte Gewalttäter
Leygraf hat nach seiner Aussage 29 Angeklagte aus dem islamisch-terroristischen Spektrum untersucht. Er sagt zu diesen Personen:
„Der „Islamische Staat“ vertritt offensichtlich eine Ideologie, mit der sich Jugendliche aus bestimmten Kreisen sehr schnell anfreunden können. (Das ist) auch eine Frage des Alters: In einer bestimmten Phase sind junge Männer anfällig für radikale Ideen, für die man kämpfen kann und mit deren Hilfe man sich ethisch auch noch besonders erhaben fühlen darf. Der IS spricht mit seinen Werbekampagnen gezielt solche Jugendlichen auf der Sinnsuche an: "Komm zu uns, hier kannst du kämpfen, hier kannst du töten."“
Ausführlicher geht Leygraf in der Zeitschrift Ärztewoche, Nr. 1–3, 2015 auf dieses Thema ein unter dem Titel Hirngewaschen oder geisteskrank? Zur Phänomenologie islamistisch-terroristischer Straftäter. Dieser Fachaufsatz wurde danach in mehreren Zeitungen Österreichs für das allgemeine Publikum referiert, z. B. im Kurier.
Leygraf warnt demnach vor der Pathologisierung von Glaubensfanatikern und terroristischen Aktivisten: "Ein bestimmter Glaube wird nicht dadurch zu einer psychischen Störung, dass dieser Glaube die Notwendigkeit seiner möglichst weltweiten Verbreitung beinhaltet, weshalb auch der gewalttätige Kampf gegen die Ungläubigen zur scheinbaren Pflicht wird." Der Jihadismus ist ein "weltweites Problem", dessen Anhängern man "kaum gerecht" werde, wenn man sie "allein unter dem Aspekt einer psychischen Abnormität betrachtet."
Leygraf hatte unter anderem die 4 Täter der sogenannten Sauerland-Gruppe zu begutachten. Insgesamt sind die meisten seiner 29 Probanden in arabischen Ländern geboren. Auch von den zehn in Deutschland geborenen Untersuchten hätten nur drei "keinen Migrationshintergrund" gehabt.
Leygraf sagt zu psychischen Auffälligkeiten: "Von den 19 älteren, insbesondere aus dem arabischen Raum stammenden Probanden wies keiner eine schwerwiegende Psychopathologie auf. Es fanden sich aber auch nur wenige psychisch robuste, in sich ruhende Überzeugungstäter. Stattdessen war hier eine Reihe recht illustrer und primär dissozial auffälliger Persönlichkeiten vertreten."
Für die erste Gruppe stellt der Gerichtspsychiater den Fall von Shadi A. dar, der im Dezember 1999 via Mekka nach Afghanistan gekommen war, dort über einen Schwiegersohn von Osama bin Laden in ein Trainingslager wechselte und schließlich von dem Terroristen Abu Mussab az-Zarqawi nach Deutschland geschickt worden war, um hier aktiv zu werden.
Shadi A. war schon im Libanon im Jugendalter wegen aggressiven Verhaltens in Behandlung gewesen, doch direkt psychiatrisch krank war er nicht: "Nach zwei gescheiterten Berufsausbildungen arbeitete er in Beirut als Marktverkäufer und finanzierte sich durch Diebstähle. Schon in Jordanien hatte er homosexuelle Kontakte, die er nach seiner Einreise im Jahr 1995 in Deutschland mit wechselnden Partnern fortsetzte, wobei er nebenher auch heterosexuelle Kontakte in Bordellen pflegte. Er konsumierte in erheblichen Mengen Cannabis und Alkohol und verschaffte sich das Geld vor allem durch Betrugsdelikte."
Der weitere "Weg": "Wegen seiner finanziellen Schwierigkeiten kam er in Kontakt zu einer Moschee, in der er auf Kredit Lebensmittel erhielt." Dann kam die Vermittlung nach Afghanistan und die Rückkehr nach Deutschland. Während der Vorbereitungen für Anschläge – einen Teil der dafür vorhandenen Finanzmittel investierte er in "Haschisch, Alkohol und sexuelle Kontakte" – wurde er schließlich von den deutschen Behörden "an einer Bushaltestelle, auf einer gerade gekauften Kiste Bier sitzend," festgenommen. Was das Gutachten über Shadi A. und die drei weiteren Angeklagten aussagte: "Insgesamt erschien er letztlich als das Gegenteil dessen, was man sich unter einem islamistischen Fundamentalisten vorstellen würde. Die drei weiteren Mittäter dieser Gruppe hatten es ebenfalls sämtlich in Deutschland nicht weit gebracht. Keiner von ihnen verfügte über einen beruflichen Abschluss; alle hatten (vor ihrer Bekehrung ...) kein muslimisch orientiertes Leben geführt, sondern hatten sowohl Alkohol als auch Cannabis konsumiert; alle waren vorbestraft (u. a. Diebstahl Körperverletzung, Drogenhandel). Sie waren mit ihren Zielen gescheitert und sozial isoliert."
Etwas anders sei dies bei in Deutschland aufgewachsenen angeklagten Islamisten gewesen. Zwei von zehn Untersuchten hätten "den fundamentalistischen Islam dazu genutzt, ihr überhöhtes Selbstwertgefühl nach außen hin zu präsentieren" und "eine Möglichkeit gefunden, ihre aggressiven Impulse scheinbar moralisch legitimiert" ausleben zu können. Allerdings, bei drei der zehn Personen hätten sich in der Vorgeschichte auch psychotische Phasen erheben lassen.
Leygraf stellt in der Fachzeitschrift fest: Zusammenfassend seien bei jungen Islamisten eher Probleme in der Identitätsfindung zu bemerken, allerdings nicht generell:
„Vielmehr scheint die Faszination, die für einen jungen Mann davon ausgeht, sich als Mitglied einer scheinbar elitären Gruppe zu fühlen und für ethisch hochstehende Ziele in den Kampf ziehen zu können, an sich schon ein hohes Gefährdungspotenzial mit sich zu bringen.“
Die moderne und globale Kommunikation ist seiner Ansicht nach als "Missionierungswerkzeug" nicht zu unterschätzen:
„Dabei bieten sich Islamismus und Jihad angesichts der weiten Verbreitung entsprechenden Propagandamaterials im Internet heutzutage als weitere, wenn auch zuweilen besonders schicksalsträchtige Möglichkeit an, sich im Prozess des Erwachsenwerdens auf dem Weg ins rechte Leben zu verirren.“