Mesale Tolu
Quick Facts
Biography
Meşale Tolu Çorlu (* 1984 in Ulm als Meşale Tolu) ist eine deutsche Journalistin und Übersetzerin. Mitte Mai 2017 wurde publik, dass sie bereits Ende April 2017 in der Türkei im Rahmen ihrer Pressetätigkeit festgenommen worden war, ohne dass deutsche Behörden hierüber informiert wurden. Ihr Schicksal und das anderer in der Türkei inhaftierter Journalisten ist Gegenstand medialer Berichterstattung und diplomatischer Aktivitäten. Am 23. August 2017 entschied ein Gericht in Istanbul, sie müsse in Untersuchungshaft bleiben (die in der Türkei bis zu fünf Jahre dauern kann).
Leben
Meşale Tolu wurde 1984 in Ulm geboren, wuchs dort auf und machte ihr Abitur am Anna-Essinger-Gymnasium Ulm. Zehn Jahre zuvor war ihr Vater, der Automechaniker Ali Rıza Tolu, seinen damals bereits einige Jahre in Ulm lebenden Eltern nachgezogen. Ihre Mutter starb 1990 bei einem Verkehrsunfall während einer Urlaubsreise in der Türkei. Tolu erhielt nach einem Lehramtsstudium für Gymnasien in den Fächern Ethik und Spanisch an der Goethe-Universität Frankfurt am Main 2007 die deutsche Staatsbürgerschaft und legte zugleich ihre türkische Staatsbürgerschaft ab. Ende 2014 wurden Tolu und ihr Mann Suat Çorlu Eltern eines Sohnes.
Seit 2014 berichtete sie für den privaten Radiosender Özgür Radyo in Istanbul. Der Sender wurde nach dem Putschversuch im Juli 2016 per Regierungsdekret geschlossen. Außerdem war sie als Übersetzerin für die Nachrichtenagentur Etkin Haber Ajansı (ETHA) tätig. Laut Spiegel und taz lebt Tolu in Istanbul, während die Stuttgarter Zeitung und die Schwäbische Zeitung schreiben, dass sie nach Angaben ihrer Anwältin Kader Tonc sowie ihres Bruders Hüseyin Tolu normalerweise nur hin und wieder in die Türkei reist, um als Übersetzerin und Reporterin zu arbeiten. Diesmal habe sie sich etwa drei Monate im Land aufgehalten. Ansonsten lebt Meşale Tolu in Neu-Ulm.
Seit der Verhaftung in der Türkei
Am 10. Mai 2017 erschienen erste Berichte in deutschen Medien, dass eine türkische Antiterroreinheit am 30. April 2017 morgens gegen 4:30 Uhr Ortszeit (UTC+3) gewaltsam in ihre Wohnung im Istanbuler Stadtteil Kartal eingedrungen war und sie – laut Presseberichten vor den Augen ihres zweijährigen Sohnes – festgenommen hatte. Eine Kollegin sagte gegenüber der Presse, Tolu sei gezwungen worden, ihr Kind bei ihr unbekannten Nachbarn abzugeben. Tolus Wohnung sei anschließend verwüstet gewesen. Ihr wird „Terrorpropaganda“ und „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ vorgeworfen. Nach Gülhan Kaya, eine der Anwältinnen, die sich den Fall ansahen, ist einer der „Beweise“ gegen sie, zu den rund 2000 Teilnehmern an der Beerdigung von Sirin Öter und Yeliz Erbay gezählt zu haben. Beide waren MLKP-Mitglieder, die 2015 von Polizeikräften bei einem Einsatz in Istanbul getötet wurden. Nach Angaben ihres Vaters habe die Staatsanwaltschaft Tolu als Indizien Fotos vorgelegt, die sie auf einer Gedenkveranstaltung für eine 2015 in Syrien getötete deutsche Kämpferin der kurdischen Miliz YPG zeigen sollen. Tolu gibt an, als Journalistin über die Veranstaltung berichtet zu haben.
Laut Martin Schäfer, Sprecher des Auswärtigen Amts, hat die Türkei völkerrechtswidrig die deutsche Regierung nicht über den Fall informiert. Die Türkei sei ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen, „die deutsche Seite unverzüglich über die Verhaftung der Übersetzerin zu informieren und eine konsularische Betreuung zu ermöglichen“. Dies sei ein Verstoß gegen das Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen. Das Auswärtige Amt arbeite „mit Hochdruck“ daran, „so schnell wie möglich Zugang zu Mesale Tolu zu bekommen“.
Tolus Ehemann, der Journalist Suat Çorlu, war bereits am 5. April 2017 in Ankara verhaftet worden. Er sitzt wegen angeblicher Mitgliedschaft in der MLKP in den Strafvollzugsanstalten Silivri in Untersuchungshaft.
Nach Angaben ihres Bruders Hüseyin Tolu wurde der Familie der Zugang zu Tolu, die im Frauengefängnis in Bakırköy inhaftiert ist, zunächst verwehrt. Laut Pressemeldungen vom 15. Mai 2017 durfte Tolus Vater seine Tochter im Gefängnis besuchen, wobei er seiner Tochter deren Sohn übergab, der bei Tolu im Gefängnis bleiben soll. Zuvor befand sie sich laut Medienberichten mindestens sechs Tage im Hungerstreik.
Nach zwei Monaten Haft durften erstmals deutsche Diplomaten Tolu besuchen und sich in einem 90-minütigen Gespräch davon überzeugen, dass es ihr „den Umständen entsprechend gut“ geht. Nach Angaben von Baki Selcuk, dem Sprecher des Solidaritätskreises „Freiheit für Meşale Tolu“, befinden sich Tolu und ihr zweijähriger Sohn gemeinsam mit 24 weiteren Frauen in einer Zelle. Einwegwindeln stehen nicht zur Verfügung, der Besuch einer Spielecke im Gefängnis ist Tolu untersagt. Am 12. Juli 2017 wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben habe; die Anklageschrift lag Tolus Anwältin nicht vor. Das Gericht musste innerhalb von zwei Wochen einen Gerichtstermin festsetzen, der aber einige Monate in der Zukunft liegen kann.
Anfang August 2017 berichteten Medien, der Prozess gegen Meşale Tolu solle am 11. Oktober 2017 beginnen. Die türkische Staatsanwaltschaft fordert laut Medienberichten wegen „Terrorpropaganda“ und „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ 15 Jahre Haft. Der Tagesspiegel bewertet dies so: „Übertragen auf Deutschland, würde das die Verhaftung auch von ,Tagesspiegel’-Kollegen bedeuten, wenn sie im Januar über die Demonstrationen der Linken und versprengten Alt-DDRler zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg berichten.“
Sie hatte (Stand Anfang August 2017) noch keine Möglichkeit, ihre deutschen Anwälte zu kontaktieren.
Am 23. August 2017 entschied das zuständige Gericht in Istanbul bei einer routinemäßigen Haftprüfung, dass Meşale Tolu in Haft bleiben muss. Das Gericht begründete die Entscheidung laut Tolus Anwalt mit einer möglichen Fluchtgefahr und einer noch nicht abgeschlossenen Beweissammlung.
Reaktionen
- Der Deutsche Journalisten-Verband forderte die türkische Justiz auf, die deutsche Journalistin sofort auf freien Fuß zu setzen und sprach von einem „dreisten Willkürakt der türkischen Autokratie gegen die freie Presse.“
- Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/Die Grünen, forderte Tolus sofortige Freilassung.
- Die Linken-Politikerin Sevim Dağdelen forderte Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) auf, gegenüber der türkischen Botschaft „gegen den neuerlichen willkürlichen Angriff auf deutsche Pressevertreter“ zu protestieren.
- Bei einer Kundgebung am 12. Mai 2017 in der Ulmer Fußgängerzone demonstrierten rund 150 Menschen für Tolus Freilassung, die Polizei verhinderte Störversuche durch einige Fans von Recep Tayyip Erdoğan.
- Der baden-württembergische Justizminister Guido Wolf bat den türkischen Generalkonsul in Stuttgart um ein persönliches Gespräch in der Angelegenheit.
- Auch an anderen Orten (Köln, Nürnberg, Kiel) wurde für die Freilassung Tolus demonstriert.
- Der Ulmer Gemeinderat und der Neu-Ulmer Stadtrat haben im Juni 2017 eine gemeinsame Erklärung verabschiedet. Darin fordern sie die Achtung der Pressefreiheit sowie ein faires, rechtsstaatliches Verfahren für Tolu.
- Schulleitung, Elternbeirat und Lehrer des Ulmer Anna-Essinger-Gymnasiums sprachen sich Ende Mai 2017 in einer Presseerklärung für eine rechtsstaatliche Behandlung und die Freilassung Tolus aus.
- Am 7. Oktober 2017 findet im Ulmer Kornhaus eine Solidaritätsveranstaltung für Tolu statt. Schirmherr ist der Ulmer Oberbürgermeister Gunter Czisch, der auch als Redner auftritt.
Siehe auch
- Geschichte der Republik Türkei im 21. Jahrhundert
- Pressefreiheit in der Türkei
- Peter Steudtner#Hintergrund und Reaktionen
- Deutsch-türkische Beziehungen