peoplepill id: ferhat-unvar
FU
Germany
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The basics

Quick Facts

Places
Gender
Male
Place of death
Hanau, Main-Kinzig-Kreis, Darmstadt Government Region, Germany
Age
23 years
Ferhat Unvar
The details (from wikipedia)

Biography

Beim Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 erschoss der 43-jährige Tobias Rathjen in Hanau neun Personen mit Migrationshintergrund sowie seine Mutter in deren gemeinsamem Wohnhaus, bevor er sich selbst erschoss. Das Bundeskriminalamt stufte die Tötungen des unter paranoiden Wahnvorstellungen leidenden Täters als rechtsextremistisch und rassistisch motiviert ein.

Tatverlauf

Karte der Anschlagsziele in Hanau

Die Mordanschläge erfolgten in und vor einer Shisha-Bar, einer weiteren Bar und einem Kiosk, die bevorzugt von Menschen mit Migrationshintergrund besucht werden.

Am 19. Februar 2020 hielt sich Rathjen ab etwa 21:00 Uhr in der Nähe des ersten Tatorts, dem Heumarkt, auf. Nach einer Kontrolle wegen Falschparkens auf einem Behindertenparkplatz stellte er den Pkw an einem anderen Ort ab. Im weiteren Verlauf erschoss Rathjen an zwei Tatorten innerhalb von zwölf Minuten neun Menschen. Laut dem Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Peter Frank, am 27. Februar 2020 im Innenausschuss des Bundestages ging Rathjen strategisch und planvoll vor und wählte Opfer mit augenscheinlichem Migrationshintergrund.

Gegen 21:50 Uhr der Tatnacht näherte sich Rathjen zwei Lokalen am Hanauer Heumarkt. Mit zwei Schusswaffen begann er, auf die Anwesenden zu schießen und tötete dort zunächst drei Personen. In der Bar „La Votre“ erschoss er einen Mitarbeiter, Kaloyan Velkov, und auf der Straße vor der Bar den 34-jährigen Fatih Saraçoğlu. In der Shisha-Bar „Midnight“ ermordete er den Eigentümer Sedat Gürbüz. Danach betrat Rathjen einen Kiosk am Heumarkt, welcher zu dem Zeitpunkt unbesetzt war. Vili Viorel Păun beobachtete ihn dabei aus seinem Auto heraus und versuchte, sich ihm in den Weg zu stellen.

Um 21:53 Uhr floh Rathjen und schoss dabei auf ein sich näherndes Fahrzeug, eventuell Păuns Auto. Daraufhin begab er sich zum Kurt-Schumacher-Platz in Hanau-Kesselstadt, dem zweiten Tatort. Gegen 22:00 Uhr erschoss er Vili Viorel Păun durch die Windschutzscheibe seines Pkws, der auf dem Parkplatz vor einem Wohnblock stand. Rathjen stürmte dann in einen Kiosk im Erdgeschoss des Wohnblocks und tötete dort Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz und Ferhat Unvar. Im anliegenden Lokal „Arena Bar & Café“ erschoss er Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović. Zum Schluss fuhr er zu seiner Wohnung in Kesselstadt zurück und erschoss dort seine Mutter und sich selbst.

Opfer

Rathjen erschoss elf Menschen, acht davon mit Migrationshintergrund, eine deutsche Romni, seine Mutter und schließlich sich selbst.

  • Gökhan Gültekin wurde in Hanau geboren. Seine kurdischen Eltern stammen aus Ağrı, Türkei, und zogen 1968 nach Hanau. Er hatte einen acht Jahre älteren Bruder; der Vater starb fünf Wochen nach dem Anschlag an Krebs. Gökhan Gültekin war gelernter Maurer und hatte kurz vor der Tat ein Speditions- und Hausmeisterunternehmen gegründet. In der Arena Bar arbeitete er nur noch aushilfsweise. Im Jahr 2006 war Gültekin lebensgefährlich verletzt worden, als ein Linienbus eine Telefonzelle überfuhr, in der er sich aufgehalten hatte. Dass er den Unfall überlebte, sah er als ein Geschenk Gottes. Er starb mit 37 Jahren.
  • Sedat Gürbüz wurde in Langen geboren und wuchs in Dietzenbach mit seinen Eltern und einem Bruder auf. Gürbüz war der Besitzer der Shisha-Bar Midnight, die er kurz zuvor verkauft hatte. An jenem Abend war er nur gekommen, um sich von seinen Mitarbeitern zu verabschieden. Er starb mit 29 Jahren.
  • Said Nesar Hashemi war Deutsch-Afghane und wuchs mit vier Geschwistern in Hanau auf. Er war ausgebildeter Maschinen- und Anlagenführer. Sein zwei Jahre älterer Bruder Said Etris war am Abend des 19. Februar auch in der Arena Bar in Kesselstadt. Er wurde angeschossen, aber überlebte schwer verletzt. Hashemi starb mit 21 Jahren.
  • Mercedes Kierpacz war eine deutsche Romni; sie wurde in Offenbach am Main geboren und arbeitete in der Arena Bar, die nur wenige Meter von ihrer Wohnung entfernt war. Am Abend des 19. Februar 2020 ging sie in die Bar, um eine Pizza für ihre zwei Kinder abzuholen, einen damals 17-jährigen Sohn und eine dreijährige Tochter. Sie starb mit 35 Jahren.
  • Hamza Kurtović wurde wie sein Vater und seine drei Geschwister in Deutschland geboren. Seine bosniakischen Vorfahren stammten aus Prijedor, damals Jugoslawien. Er hatte gerade eine Ausbildung als Fachlagerist abgeschlossen und wohnte in der Nähe des Täters. Dieser erschoss ihn in der Arena Bar, als er dort auf seinen Freund wartete. Er wurde 22 Jahre alt.
  • Vili Viorel Păun (geb. 10. September 1997) war ein Rom aus Rumänien und das einzige Kind seiner Eltern. Er kam als 16-Jähriger nach Deutschland, um Geld für eine medizinische Behandlung seiner Mutter zu verdienen. Er arbeitete bei einem Kurierdienst. Am Abend des 19. Februar beobachtete er die Schüsse am ersten Tatort und versuchte, den Täter mit seinem Auto zu blockieren. Als das nicht gelang, verfolgte er den Täter mit seinem Auto. Unterwegs versuchte er mehrmals vergeblich, den Notruf zu erreichen. Am Kurt-Schumacher-Platz erschoss der Täter Păun in seinem Auto. Ein Kreuz auf dem Discounterparkplatz am Kurt-Schumacher-Platz, auf dem Păun ermordet wurde, soll an Păuns Zivilcourage erinnern. Er starb mit 22 Jahren. Am 19. April 2021 wurde er posthum mit der Hessischen Medaille für Zivilcourage geehrt.
  • Fatih Saraçoğlu war drei Jahre zuvor aus Regensburg nach Maintal gezogen. Seine Familie stammt aus dem türkischen Iskilip. Er arbeitete selbständig als Schädlingsbekämpfer und plante, mit seiner Firma bundesweit tätig zu werden. Saraçoğlu starb auf offener Straße vor der Shisha-Bar Midnight, nachdem ihn vier Kugeln getroffen hatten. Er wurde 34 Jahre alt.
  • Ferhat Unvar wurde als Kind kurdischer Eltern in Deutschland geboren. Er hatte drei Geschwister. Unvar hatte gerade eine Ausbildung zum Gas- und Wasserinstallateur abgeschlossen und traf sich oft mit Freunden in der Arena Bar. Seine Mutter Serpil Temiz Unvar gründete am 14. November 2020, seinem 24. Geburtstag, die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“.
  • Kaloyan Velkov war ein Rom aus Bulgarien und lebte seit zwei Jahren in Deutschland. Er war LKW-Fahrer und der Wirt der Bar La Votre neben der Shisha-Bar Midnight. Velkov hinterließ einen achtjährigen Sohn. Er starb mit 33 Jahren.
  • Gabriele Rathjen war die Mutter des Täters. Sie war nach Angaben von Nachbarn bettlägerig und erhielt mehrmals täglich Besuch von einem Pflegedienst. Sie starb mit 72 Jahren.

Mindestens fünf weitere Personen wurden nach Angaben des Landeskriminalamts durch Schüsse des Täters verletzt. Der 23-jährige Bruder von Hashemi überlebte schwer verletzt. Muhammed B. wurde in der Arena Bar die rechte Schulter durchschossen; er fiel auf einen tödlich getroffenen Freund und überlebte nach einer Notoperation.

Ermittlungen

Fahndung nach dem Täter

Nach eigenen Angaben erfuhr die Hanauer Polizei um 21:58 Uhr am Tatabend von den Schüssen am Heumarkt. Einsatzkräfte trafen demnach ab 22:00 Uhr dort ein, versorgten Verwundete und begannen nach dem Täter zu fahnden. Um 22:05 Uhr erhielt die Polizei erste Notrufe vom Kurt-Schumacher-Platz. Um 22:09 Uhr trafen weitere Einsatzkräfte dort ein, darunter ein Notinterventionsteam. Der Täter war jedoch bereits weitergefahren. Meldungen über angebliche Schüsse im Stadtteil Lamboy sowie in Bruchköbel stellten sich als falsch heraus. Um 22:50 Uhr konnte die Polizei einen an beiden Tatorten gesichteten Pkw dem Täter zuordnen und fand den Wagen gegen 23:00 Uhr bei seinem Wohnhaus in Hanau-Kesselstadt. In den nächsten vier Stunden beobachtete die Polizei das Haus und erwog, den Täter zur Aufgabe zu bewegen oder das Haus zu stürmen. Ab 1:00 Uhr am 20. Februar übernahm das Polizeipräsidium Frankfurt den Einsatz, ließ beide Tatbereiche weiträumig absperren und begann mit der Spurensicherung. Ab 3:03 Uhr drang ein Spezialkommando vorsichtig in das Wohnhaus des Täters ein, in dem Sprengfallen vermutet wurden. In der nächsten Stunde fand die Polizei in seiner Wohnung zwei Tote: den Täter und seine Mutter. Um 5:55 Uhr gab die Polizei bekannt, dass ein Attentäter neun Menschen erschossen habe. Bis dahin hatten erste Pressemeldungen fälschlich von einer „Schießerei“ gesprochen. Der Vater des Täters wurde in der Wohnung unverletzt aufgefunden, vernommen, kurz psychiatrisch untersucht und mangels Hinweisen auf eine Tatbeteiligung freigelassen.

Die Spurensicherung ergab, dass der Täter an den Tatorten mindestens 52 Schüsse abgegeben hatte. In seinem Pkw lagen eine Ceska-Pistole, zusätzliche Magazine und ein Rucksack voller Munition. In seiner Wohnung fanden sich weitere 346 Patronen und zwei weitere Handfeuerwaffen, die er legal besaß. Zudem fand die Polizei ein Bekennerschreiben und ein Tätervideo. Wegen der Funde und Bedeutung des Falls übernahm der Generalbundesanwalt am 20. Februar 2020 die Ermittlungen.

Der hessische Innenminister Peter Beuth verwies am 20. Februar 2020 auf mögliche rassistische Motive des Täters. Er sei bis dahin weder dem Landesamt für Verfassungsschutz Hessen noch der Polizei bekannt gewesen. Hinweise über mögliche Mitwisser oder Unterstützer gebe es nicht. Nach einem Zwischenbericht des Bundeskriminalamts (BKA) vom März 2020 wurden die Ermittlungen fortgesetzt.

13 der 19 Mitglieder des Spezialeinsatzkommandos (SEK) aus Frankfurt am Main, das in der Tatnacht nach dem Täter fahndete, waren an rechtsextremen Chatgruppen beteiligt gewesen. Infolgedessen wurde das SEK im Juni 2021 aufgelöst.

Fehlende Sicherungsmaßnahmen am Täterwohnhaus

Am 2. Juni 2022 präsentierte das Londoner Recherchekollektiv Forensic Architecture im Frankfurter Kunstverein eine sekundengenaue digitale Rekonstruktion des Tatablaufs von Hanau, die auf der umfassenden Auswertung von Augenzeugenberichten, Ermittlungsakten, Fotografien, Handyvideos und Wärmebildaufnahmen beruhte. Mit einem Experiment baute die Gruppe das Wohnzimmer des Täters nach und spielte den Schall ein, den die Schüsse auf seine Mutter erzeugten. Diese wären rund um das Haus mit rund 100 Dezibel Lautstärke zu hören gewesen. Dies stellte die Behauptung der beteiligten SEK-Beamten in Frage, sie hätten vor dem Haus keine Schüsse gehört. Wärmebildaufnahmen und Funksprüche eines Polizeihubschraubers zeigten, dass die Hubschrauberbesatzung zu keinem Zeitpunkt in die Täterfahndung eingebunden war, die Wohnadresse des Täters nicht erfahren und keinen konkreten Auftrag erhalten hatte. Mehrmals versagte die Bildschirmtechnik und die Funkkanäle waren unklar. Die Polizei hatte die Eingänge des Täterwohnhauses in der Tatnacht erst weit nach 24:00 Uhr vollständig überwacht. Bis mindestens 24:00 Uhr ließ sie Fußgänger und Pkws vor dem Haus passieren, schätzte den Täter und sein geparktes Fahrzeug also offenbar als ungefährlich ein. Um kurz nach 23:00 Uhr hatte sich das erste Polizeifahrzeug dem Haus genähert, es aber um 23:21 Uhr wieder verlassen. Bis 00:25 Uhr befand sich weder vor noch hinter dem Haus ein Polizeiposten, um die Eingänge zu bewachen. Der Täter befand sich ab etwa 22:00 dort, so dass er das Haus über Stunden problemlos hätte verlassen und entkommen oder weitere Morde begehen können. Für Robert Trafford, den Projektleiter von Forensic Architecture, bestätigten die Dokumente die Kritik der Opferangehörigen: „Die Polizei hat in der Tatnacht versagt.“ Sie habe viel zu spät eingegriffen und dem Täter eine Chance zur Flucht gegeben. Dieser hätte „leicht von der Polizei unbemerkt sein Haus verlassen können“.

Das Polizeipräsidium Südosthessen erklärte dazu: Der Hubschrauber sei zum Sichern und Koordinieren der gesamten Fahndung am Boden angefordert worden. Man habe das Wohnhaus bis zum Eintreffen weiterer Einsatzkräfte gesichert und den Zugriff erst nach erfolglosen Kontaktversuchen und der notwendigen Vorbereitung auf Sprengfallen oder einen Schusswechsel durchgeführt. Zu den Schüssen im Haus könne man nichts sagen, da dies das inzwischen abgeschlossene Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts berühre. Ein „schnelles und somit stark risikobehaftetes Vorgehen“ sei nicht geboten gewesen.

Nicht erreichbarer polizeilicher Notruf

Ab 21:56 Uhr riefen mehrere Tatzeugen den Notruf 110 an, wurden jedoch nicht durchgestellt. Nach den ersten beiden registrierten Anrufen waren die verfügbaren zwei Apparate der Notrufzentrale besetzt. Erst nachdem Rathjen sein neuntes Opfer erschossen hatte und weggefahren war, nahm die Polizei einen dritten Anruf entgegen. Es wird vermutet, dass Vili Viorel Păun dem Täter mit seinem Pkw (einem silbernen Mercedes) vom ersten zum zweiten Tatort gefolgt war. In einem Überwachungsvideo vom Heumarkt um 21:53 Uhr ist ein silberner Pkw zu sehen, der auf den Täter zufährt, woraufhin Rathjen einen Schuss abfeuert und flieht, anschließend wendet der Pkw in Rathjens Fluchtrichtung. Laut Păuns Handydaten hat dieser zwischen 21:57 und 21:59 Uhr dreimal vergeblich den Polizeinotruf gewählt, kurz darauf wurde er vom Täter erschossen. Păuns Leiche wurde in seinem Fahrzeug vor dem Kiosk in Kesselstadt aufgefunden. Das Opfer hatte sich laut seinen Eltern nie in dieser Gegend aufgehalten.

Insgesamt registrierte die Notrufzentrale nach Recherchen des Magazins Monitor nur fünf Anrufe aus Hanau. Die zwei Apparate waren nicht durchgängig besetzt und eine Rufumleitung zu einer Leitstelle war nicht eingerichtet. Viele Anrufe wurden weder registriert noch aufgezeichnet. Es erfolgten zudem keine Rückrufe. In der Polizeiwache der Innenstadt war nur ein Beamter anwesend, um Notrufe anzunehmen. Hätte Vili Viorel Păun die Polizei erreicht, hätte man ihm höchstwahrscheinlich geraten, sich in Sicherheit zu bringen und den Täter nicht zu verfolgen; das hätte ihm das Leben retten können. Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbeamter kritisierte dies als schweres Versäumnis, da die Polizei in Kenntnis weiterer Zeugenaussagen eventuell einige der Morde hätte verhindern können.

Wegen der Mängel beim polizeilichen Notruf leitete die Staatsanwaltschaft Hanau Vorermittlungen ein, um unter anderem zu klären, ob „durch eine ordnungsgemäße Besetzung des Notrufs der Tod […] weiterer Anschlagsopfer hätte verhindert werden können“. Im Juni 2021 lehnte sie die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ab, da kein Anfangsverdacht vorliege. Zwar wurde das zweite Notruftelefon zeitweise nicht abgenommen, allerdings habe das keinen Einfluss auf das Tatgeschehen am Kurt-Schumacher-Platz gehabt. Auch wenn man Păuns ersten Notruf entgegengenommen hätte, sei es der Polizei zeitlich nicht möglich gewesen, seine Tötung zu verhindern.

Die Staatsanwaltschaft stellte bei ihren Ermittlungen allerdings auch fest, dass die Probleme beim Notruf seit mindestens 2003 bekannt waren, jedoch alle Beschwerden erfolglos blieben. In der bis dahin letzten Beschwerde vom 29. Januar 2019 wurde die Situation wie folgt beschrieben:

„[…] ein Beamter [sitzt] auf der Wache, während alle drei Streifen außerhalb der Wache unterwegs sind. Nicht selten klingeln beide Notrufapparate gleichzeitig, es stehen Funkgespräche an, und im Foyer stehen mehrere Besucher vor einer leeren Loge. Wenn dann noch im Gewahrsam ein Insasse klingelt, weil er beispielsweise auf Toilette muss, ist das Chaos perfekt.“

Dabei war bereits 2016 konkret vor „mobilen Tätern“ gewarnt worden und, dass „bei einer unzureichenden Kapazität der Notrufabfrageplätze Ortsangaben für die eingesetzten Kräfte nur stark verzögert oder inaktuell übermittelt werden könnten“ – was laut Staatsanwaltschaft „Ähnlichkeiten zu der vorliegenden Fallgestaltung des Anschlags von Hanau“ aufweise.

Verschlossener Notausgang

Nach Angaben von Augenzeugen und Medienrecherchen waren der Notausgang und ein weiterer Ausgang des Lagerraums der Arena Bar zur Tatzeit verriegelt, so dass Anwesende nicht flüchten konnten. Laut Zeugen war es Gästen bekannt, dass der Inhaber die beiden Türen seit Jahren geschlossen hielt. Auch die Polizei sei informiert gewesen, da regelmäßig Razzien in der Bar durchgeführt wurden. Die Polizei Südosthessen bestätigte die Razzien, bestritt aber, dass sie das Verriegeln der Tür angeordnet habe.

Schon im November 2017 hatten Polizeibeamte dem Gewerbeamt der Stadt Hanau mitgeteilt, dass der Notausgang der Arena Bar verschlossen war. In den Tatortberichten der Hanauer Polizei fehlte diese Mitteilung. Daher sah auch die Bundesanwaltschaft keinen Anfangsverdacht einer fahrlässigen Tötung. Nachdem die Opferangehörigen im November 2020 Strafanzeige gegen den Inhaber der Arena Bar gestellt hatten, begann die Staatsanwaltschaft Hanau dazu zu ermitteln.

Im März 2021 reichten die Familien der Opfer und mehrere Überlebende eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Polizei und Behörden des Landes Hessen ein: Diese hätten amtspflichtwidrig gehandelt und damit den Anschlag nicht verhindert. Der Notausgang eines Tatorts sei mit Wissen und Duldung der Polizei verschlossen gewesen, die polizeiliche Überfallmeldeanlage sei technisch nicht in Ordnung und zum Zeitpunkt der Taten unterbesetzt gewesen. Auch habe die Polizei bei einem der Opfer die Vitalfunktionen nicht rechtzeitig überprüft. Sowohl die Polizei als auch die örtliche Staatsanwaltschaft hätten die Würde der Toten und das Totenfürsorgerecht der Familien verletzt, weil sie Obduktionen veranlasst hatten, obwohl dafür der Generalbundesanwalt zuständig gewesen wäre.

Bis Ende August 2021 stellte die Staatsanwaltschaft Hanau das Ermittlungsverfahren zum Notausgang ein und veröffentlichte einen 40-seitigen Bericht dazu. Dieser begründete die Einstellung durch „widersprüchliche Zeugenaussagen“, ob die Tür des Notausgangs am Tatabend geschlossen oder geöffnet gewesen sei. Auch sei unsicher, ob die jungen Leute ihrem Fluchtinstinkt weg vom Täter folgten oder von einem zugesperrten Notausgang ausgingen. Für Absprachen des Wirts der Arena Bar mit der Polizei und für einen Kausalzusammenhang zwischen dem verschlossenen Ausgang und den Morden habe man keine Belege gefunden. Bereits Ende 2020 habe eine Durchsuchung der Bar ergeben, dass die Notausgangstür geklemmt habe und nur mit viel Kraft zu öffnen war. Dies könne auch zur Tatzeit der Fall gewesen sein. Im Mai 2022 bestätigte die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt nach „nochmaliger umfangreicher Überprüfung“ die Einstellung des Verfahrens.

Ein Gutachten des Recherchekollektivs Forensic Architecture vom Dezember 2021 widersprach der polizeilichen Darstellung. Die genaue Rekonstruktion der Abläufe in der Arena Bar ergab, dass sich mindestens vier, sehr wahrscheinlich fünf Gäste hätten retten können, wenn die Fluchttür offen gewesen und genutzt worden wäre. Ein am 2. Juni 2022 veröffentlichtes, bis dahin unbekanntes Überwachungsvideo der Arena Bar zeigte, dass mehrere am 19. Februar 2020 anwesende Gäste deren Notausgang vergeblich zu nutzen versucht hatten und dann durch den Hauptausgang gegangen waren. Die späteren Mordopfer Hamza Kurtovic und Said Nesar Hashemi hatten dies gesehen und waren wohl deshalb nicht zum Notausgang geflohen, als der Attentäter auf sie zu schießen begann. Dies erhärtete eidesstattliche Erklärungen von Bargästen, dass die Fluchttür der Bar versperrt und das den Gästen bekannt gewesen war. Nach Angaben von Armin Kurtovic verfügten die hessischen Ermittlungsbehörden seit Februar 2020 über das Videomaterial der Bar, hatten es aber nicht ausgewertet und nur neun der 18 genannten Zeugen befragt. Auch einen Tatortbericht hätten sie in diesem Fall nicht angefertigt. Ein zuständiger Kriminalhauptkommissar habe zur Tatortaufnahme in der Bar gesagt, man habe „hier auf Detailtreue verzichtet“, da der Täter offensichtlich bekannt und tot war. Nach Recherchen der Frankfurter Rundschau sagte einer der für die Tatortsicherung zuständigen Polizeibeamten aus: Zwar sei der Tatort unübersichtlich gewesen, doch am Ende der Begehung habe festgestanden, dass sowohl die Tür des Notausgangs als auch die des Lagerraums verschlossen gewesen seien; darum habe man die Räume dahinter nicht fotografiert. Von einer klemmenden Tür soll vor der Durchsuchung keine Rede gewesen sein; auch diese hätte, so die Angehörigen, eine Pflichtverletzung dargestellt. Deswegen forderte Armin Kurtovic eine Klärung aller Fragen zum Notausgang durch das Bundeskriminalamt und appellierte an die hessischen Behörden, ihre Einstellung zu überdenken.

Täter

Ausbildung und Beruf

Rathjen wurde 1977 in Hanau geboren und ging dort zur Schule. In den 1980er Jahren spielte er einige Jahre Fußball in der Jugendfußballmannschaft von Eintracht Frankfurt. 1996 machte er Abitur. Mitschülern fiel er nicht als rechtsextrem auf. Nach eigenen Angaben leistete er Zivildienst und machte anschließend in Frankfurt am Main eine Ausbildung zum Bankkaufmann. Von 2000 bis 2007 studierte er Betriebswirtschaftslehre in Bayreuth und schloss mit Diplom ab. Von 2008 bis 2011 arbeitete er als Kundenberater in Trier, später in München. Dort wohnte er von 2013 bis 2018. Nach Angaben früherer Arbeitskollegen arbeitete er bis zu zwölf Stunden täglich, war sehr ehrgeizig und zeigte kein Interesse an anderen. Er zeigte offen seine Ansichten, lehnte die deutsche Nationalmannschaft wegen der „Ausländer“ darin ab und empfand die Partei Alternative für Deutschland als nicht radikal genug.

Schusswaffenbesitz und Schießtraining

Seit 2012 war Rathjen Mitglied in einem Frankfurter Schützenverein, wo er regelmäßig etwa zwei- bis dreimal in der Woche trainierte. Seit 2014 war er zudem Mitglied einer Münchener Schützengesellschaft. In beiden Vereinen fiel er nach Angaben der Vorsitzenden nie als gefährlich oder rassistisch auf.

Im April 2013 beantragte Rathjen zwei Waffenbesitzkarten, eine allgemeine grüne WBK sowie eine gelbe Sportschützen-WBK. Eine Überprüfung der Waffenbehörde beim Gesundheitsamt auf psychische oder Suchterkrankungen unterblieb. Gemäß einer bundesweiten Verwaltungsvorschrift hatte der hessische Innenminister die Waffenbehörden im März 2012 angewiesen, nur noch „bei konkretem Anlass“ bei Gesundheitsämtern nachzufragen. Im Juli 2013 erhielt Rathjen daher eine Waffenbesitzkarte. Im Mai 2014 kaufte er eine Pistole. Die Münchener Polizei stellte im März 2018 fest, dass er die Waffe ordnungsgemäß aufbewahrte. Trotz eines Vermerks zu Ermittlungen wegen Drogenschmuggels im Bundeszentralregister, die als „verwaltungsrechtlich nicht verwertbar“ eingeordnet wurden, erhielt er die zweite Waffenbesitzkarte. Er kaufte eine weitere Pistole. Im August 2019 erhielt er den Europäischen Feuerwaffenpass.

Im Jahr 2018 rief eine Prostituierte in Bayern die Polizei, weil sie sich von Rathjen bedroht fühlte. Der Polizei erklärte er, ein Messer und ein Gewehr für die Jagd zu brauchen. Die Polizei ermittelte anschließend gegen ihn wegen eines gefundenen Jointrests und gegen die Prostituierte wegen Prostitution in einem Sperrgebiet.

Bis 2019 bewahrte Rathjen seine Schusswaffen an seinem Münchener Wohnsitz auf. Nach der ordnungsgemäßen Meldung des Umzugs mahnte ihn der Landkreis nur, sich in München anzumelden. Das unterließ er, teilte dem Kreis aber 2017 und 2018 schriftlich mit, dass er seine Waffen in München aufbewahre, da er dort hauptsächlich schieße, aber seinen Hauptwohnsitz weiterhin in Hanau habe. Die Behörden des Kreises informierten weder die Münchener Waffenbehörde noch das Münchener Polizeipräsidium. Nach Angaben der Behörde überprüfte sie die Aufbewahrung der Waffen bis Mai 2017 vier Mal. Im August 2019 kontrollierte der Main-Kinzig-Kreis angemeldet und stellte nichts Auffälliges fest.

Laut Ermittlern absolvierte Rathjen im Jahr 2019 mindestens zwei Gefechtstrainings in der Slowakei, die von Ausbildern ehemaliger Militäreinheiten und Spezialeinsatzkräfte geleitet wurden. Von einem Kurs wurde Rathjen ausgeschlossen, weil er sich seltsam verhalten haben soll. Insgesamt meldete er sich fünf Mal für Schieß- und Gefechtstrainings desselben Anbieters an. Im Herbst 2019 mietete Rathjen für kurze Zeit eine Wohnung in Hof (Saale) und beobachtete dort Shisha-Bars.

Knapp zwei Wochen vor der Tat lieh er sich bei einem Waffenhändler die Tatwaffe. Das war mit einer Waffenbesitzkarte möglich. Der Waffenhändler sah keinen Grund, das zu verweigern; Rathjen habe korrekte Papiere vorgezeigt, sei seriös gekleidet gewesen und habe „völlig normal“ auf ihn gewirkt. Damit besaß der Täter zur Tatzeit legal drei Handfeuerwaffen.

Nach mehreren Strafanzeigen leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung gegen Mitarbeiter der Waffenbehörde des Main-Kinzig-Kreises ein. So wurde beispielsweise in den Akten als Aufbewahrungsort der Waffen die Adresse von Rathjen in Hanau vermerkt, obwohl es ab dem Jahr 2014 Hinweise darauf gab, dass er in München lebte. Die Ermittlungen wurden 2022 eingestellt.

Konflikte mit der Justiz

Rathjen stellte dreimal wahnhafte Strafanzeigen. Im Jahr 2002 zeigte er beim Polizeipräsidium Oberfranken eine „psychische Vergewaltigung“ an: Er werde „durch die Wand und durch die Steckdose abgehört, belauscht und gefilmt“. Daraufhin diagnostizierte ein Amtsarzt eine „Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, paranoide Inhalte“ und empfahl die sofortige Einweisung in eine Psychiatrie. Rathjen leistete Widerstand, wurde in Handschellen ins Krankenhaus gebracht, aber am selben Abend mit dem Vermerk „ungeheilt“ entlassen. Rathjens Vater hatte einen Anwalt eingeschaltet. Ein Arzt notierte, der Vater glaube ebenfalls, sein Sohn werde überwacht; beide hätten eine gemeinsame psychische Störung. Bei einer Nachuntersuchung im April 2002 wurde Rathjens voriger Gewaltausbruch auf universitären Prüfungsdruck zurückgeführt. 2004 stellte Rathjen die gleiche paranoide Anzeige bei der Polizei in Offenbach. Auch diesmal wurde er nicht psychiatrisch behandelt.

2007 griff er einen Wachmann der Universität Bayreuth an, 2010 ermittelte das Zollfahndungsamt Essen wegen Drogenschmuggels gegen ihn. Einige Monate später klagte die Stadtverwaltung Hanau Vater und Sohn an, sie hätten sich Sozialhilfe erschlichen. Beide Verfahren wurden wegen Geringfügigkeit eingestellt. Im März 2018 wurde auch in München wegen Drogenschmuggels sowie fahrlässiger Brandstiftung gegen Rathjen ermittelt. Weil man ihn erst nach seiner Aussage darüber aufgeklärt hatte, dass er Beschuldigter war, wurde das Verfahren eingestellt. Bis 2020 tauchte Rathjen in 15 polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Akten auf, fünfmal als Beschuldigter. Er erhielt aber keine Einträge ins Bundeszentralregister.

Im November 2019 stellte er beim Generalbundesanwalt eine 19 Seiten lange Strafanzeige gegen eine „unbekannte geheimdienstliche Organisation“. Teile davon tauchten in seinem Pamphlet vom Januar 2020 wieder auf. Ende 2019 schrieb er einer österreichischen Organisation, die sich mit „Fernwahrnehmung“ beschäftigt, er fühle sich beobachtet und bespitzelt. Er sprach von einer „ständigen Ausländerkriminalität“ und „Hochverrat“ an den Deutschen.

2004 erstattete er gemeinsam mit dem Vater Strafanzeige wegen Bespitzelung durch einen unbekannten Geheimdienst. 2017 wollte er im Bürgerbüro von Hanau nur von deutschen Mitarbeitern betreut werden. Zudem beantragte er einen Schutzhund zum Schutz gegen Ausländer.

Vater

Hans Gerd Rathjen ist der Vater des Attentäters. Im Verhör der Tatnacht behauptete er, sein Sohn sei Opfer einer weltweit agierenden Geheimdienst-Organisation geworden. Agenten hätten ihn im Wald getötet und seine Leiche im Elternhaus abgelegt; ein als sein Sohn verkleideter Agent habe die Morde verübt. In den folgenden Monaten stellte er viele Strafanzeigen, etwa gegen die Hausdurchsuchung, den Einsatz eines Spezialeinsatzkommandos, seine vorläufige Inhaftierung und die Behandlung im Krankenhaus. Er nannte die Opfer „Täter“ und bezeichnete das Gedenken an die Opfer als „Volksverhetzung“. Zudem forderte er Waffen und Munition seines Sohnes zurück und verlangte, dessen Internetseite wieder freizuschalten. Er zeigte eine „Störung der Totenruhe“ an, weil die Stadt Hanau seinen Sohn ohne seine Zustimmung auf See bestattet hatte, und nannte die Bundesanwaltschaft eine „politische Organisation“, die wie beim NSU-Prozess und dem Mordfall Walter Lübcke „sämtliche Wahrheiten unterdrücken“ wolle. Die Entlassung durch seinen ehemaligen Arbeitgeber benachteilige „seine Rasse“.

In Rathjens Leben spielte sein Vater eine sehr dominante Rolle. Zum Beispiel beschwerte er sich immer wieder im Namen des Sohnes beim Jobcenter. Er begleitete ihn und sprach für ihn, mit einer ausgeschriebenen Vollmacht. In einer späteren Zeugenaufnahme sagte ein Mitarbeiter, dass, was der Vater gesagt hat, Gesetz war. Die ermittelnde Bundesanwaltschaft kam später zu dem Schluss, dass der Vater nicht in die Tatpläne seines Sohnes eingeweiht war und insbesondere die Ermittlungsergebnisse rechtfertigen nicht die Annahme, dass der Vater an dem eigentlichen Anschlagsgeschehen mitgewirkt hatte oder davon im Vorfeld wusste.

Rathjens Vater stand im Fokus der Ermittlungen, unter anderem weil er sich trotz Verbots dem Haus von Serpil Temiz Unvar genähert haben soll und Widerstand gegen Polizisten geleistet haben soll. Im Herbst 2021 stand Rathjens Vater wegen Beleidigung vor Gericht; er hatte die Familien der Opfer, die teilweise seit drei Generationen in Hanau leben, als „wilde Fremde“ und das SEK als „Terrorkommando“ bezeichnet. Außerdem hatte er dem Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky Wählertäuschung vorgeworfen. Der Vorwurf der Volksverhetzung konnte jedoch nicht nachgewiesen werden. Eine Verwandte meldete sich bei der Polizei und sagte aus, das auffällige Verhalten des Vaters ähnele dem des Sohnes. Ein Psychiater geht bei Vater und Sohn von einer Folie à deux aus, einer gemeinsamen psychotischen Störung, die von einem rechtsextremen Weltbild und Wahnvorstellungen („Kampfparanoia“) geprägt war, bescheinigte ihm jedoch, schuldfähig zu sein. Rathjen wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Eine Fremdgefährdung wurde bislang nicht festgestellt. Gegen das Urteil legten sowohl der Vater als auch die Staatsanwaltschaft Berufung ein, das Verfahren war Anfang September 2022 noch vor dem Landgericht Hanau anhängig.

Der Vater des Attentäters bleibt trotz der Ermittlungen wegen möglicher Straftaten und Anzeigen weiterhin aktiv. Er betreibt eine Website, auf der er seine Verschwörungstheorien und rassistischen Ansichten verbreitet. Auf seiner Website bezeichnet er sich als „Opfer“ und stellt seinen Sohn als unschuldiges Opfer einer Geheimdienstverschwörung dar. Er behauptet, dass sein Sohn durch das Verteidigungsministerium ausspioniert wurde und dass der Anschlag in Hanau eine Inszenierung gewesen sei, um die Öffentlichkeit davon abzulenken.

Im Jahr 2021 veröffentlichte der Vater ein Buch mit dem Titel „Hanau – Der letzte Schuss“. Darin behauptet er, dass sein Sohn kein Rassist gewesen sei und dass er von Geheimdiensten manipuliert und zum Mord getrieben worden sei. Er beschuldigt auch die Medien und die Behörden, den Fall vertuschen und die wahren Hintergründe des Anschlags verschweigen zu wollen. Das Buch stieß auf breite Kritik und wurde von vielen als Verhöhnung der Opfer und ihrer Angehörigen empfunden.

Die Aktivitäten des Vaters sorgen auch weiterhin für Unruhe und Ärger bei den Familien der Opfer. In einem Interview mit der Zeitung Die Welt äußerte sich Serpil Temiz Unvar, eine der Überlebenden des Anschlags, besorgt über den Einfluss des Vaters auf die Öffentlichkeit. Sie befürchtet, dass er durch seine Verschwörungstheorien und rassistischen Ansichten andere Menschen beeinflussen und zu ähnlichen Taten anstiften könnte. Auch andere Angehörige und Überlebende des Anschlags äußerten sich ähnlich besorgt und fordern, dass die Behörden stärker gegen den Vater vorgehen sollen. Serpil Temiz Unvar zeigte den weniger als 100 Meter von ihr entfernt wohnenden Vater des Täters wegen Bedrohung an, nachdem er mehrfach mit einem Schäferhund ihr Haus aufgesucht, zuerst ausländerfeindliche Bemerkungen und Andeutungen über den Anschlag in Halle (Saale) 2019 gemacht und dann das Haus beobachtet hatte; ebenso zeigten ihn Freunde von Opfern an, die er mit seinem Hund verfolgt und provoziert habe. Wegen einer Verurteilung aufgrund von Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz kam er 2023 im Rahmen einer Ersatzfreiheitsstrafe kurzzeitig ins Gefängnis. Die Hanauer Staatsanwaltschaft verwies auf insgesamt 37 laufende Verfahren gegen den Vater. Darüber hinaus schrieb der Vater Serpil Unvar Briefe, in denen er sie auffordert, Deutschland zu verlassen. Nach Recherchen des Magazins Panorama laufen derzeit mindestens 48 Verfahren gegen den Vater.

Tatplanung

Ähnlich wie Anders Breivik und Stephan Balliet hatte Rathjen seine eklektizistische Ideologie wahllos aus Versatzstücken aus dem Internet zusammengefügt, seine Anschläge allein vorbereitet und durchgeführt und mit einer „PR-Strategie“ zu verbreiten versucht. Das verband ihn laut Experten mit anderen „einsamen Wölfen“, die als ihre Mission ansahen, einen Teil der Welt auszulöschen, um das Ganze zu retten.

Rathjen kaufte bei rechten Verlagen Bücher über Geheimgesellschaften, Außerirdische, die Zeit des Nationalsozialismus und Reden Adolf Hitlers. Daraus bezog er einige seiner Verschwörungstheorien. Im Frühjahr 2019 legte er eine Datei voller rechtsextremer und verschwörungstheoretischer Inhalte an und stellte im Herbst 2019 seine eigene Website ins Netz. Am 22. Januar 2020 lud er eine Datei mit dem Titel „Begründung“ hoch, die er bis zum 13. Februar mit Texten und Videos vervollständigte. Ende Januar 2020 recherchierte er im Internet über Schulen, möglicherweise als Anschlagsziele. Ab Februar 2020 begann er, intensiv Tatorte auszukundschaften; er notierte Anschlagsziele und Vorgehen. So wollte er am Heumarkt „mind. 10“ Menschen töten. Auf Skizzen zeichnete er die Bars La Votre und Midnight, eine weitere Bar und einen Kiosk ein.

Am 15. Februar 2020 spähte Rathjen in Kesselstadt ein Wettbüro aus. Er erkundigte sich, ob und wann die angrenzende Bar geöffnet war. Rathjen besuchte Treffpunkte von Migranten, eventuell auch das Jugendzentrum „k.town“. Dort waren einige seiner späteren Mordopfer Stammgäste. Die Gäste des Jugendzentrums waren in den letzten Jahren öfter beleidigt und bedroht worden. Einmal habe ein Mann gedroht sie zu erschießen. Wochen vor den Morden war die Adresse von Rathjens Website nahe der Arena Bar an eine Wand gesprüht worden.

Tatmotive

Im Januar 2020 verfasste Rathjen ein Pamphlet mit dem Titel „Botschaft an das gesamte deutsche Volk“, das er im Internet verbreitete. Darin schrieb er über seinen Lebensweg, sein rassistisches, islamfeindliches, antisemitisches und von verschiedenen Verschwörungstheorien geprägtes Weltbild und rief zum gewaltsamen Kampf und zur Vernichtung der Bevölkerung ganzer Staaten auf. Er bezog sich darin nicht auf Rechtsterroristen oder von diesen genutzte Kanäle. Der Text war bis 20. Februar 2020 als PDF mit dem Titel „Skript mit Bildern“ auf seiner Webseite verlinkt. Wenige Tage vor der Tat hatte Rathjen ein Video auf YouTube veröffentlicht, das sich an das US-amerikanische Volk richtete und nach dem Anschlag einige Tage lang im Netz verbreitet wurde.

Kernelemente seiner Äußerungen waren:

  • Rassismus: Rathjen teilte und übernahm bekannte Narrative des Rechtspopulismus, indem er beispielsweise ethnische Deutsche von „Passdeutschen“ unterschied. Er sprach von einem Rassenkrieg.
  • Verschwörungstheorien: Er griff unter anderem die in den USA entstandenen Pizzagate- und QAnon-Thesen von einer angeblichen satanischen Elite auf und erwähnte die mit D.u.m.bs (deep underground military bases) abgekürzte These, die US-Armee baue unterirdische, mit einem Tunnelsystem verbundene Städte.
  • Misogynie: Die im Kapitel „Thema Frauen“ zum Ausdruck kommende „extreme Anspruchshaltung“ an Frauen wird von der Publizistin Meredith Haaf als misogynes Motiv gewertet, das Rathjen mit den Selbsterklärungen rechtsextremer Attentäter teile; Deutschlandfunk sowie die Journalisten Yassin Musharbash und Tom Sundermann bringen diese Einstellung zudem mit der Incel-Subkultur in Verbindung. Die Journalistin Simone Rafael stuft die Anspruchshaltung des Täters jedoch nicht als „ausformulierte[n] Frauenhass“ ein.
  • Verfolgungswahn: Weil er keine Frau fand, verdächtigte Rathjen die Eltern einer Mitstudentin, ihn überwachen zu lassen, und machte auch Geheimdienste dafür verantwortlich.

Professionelle Beurteilung

Die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh deutete die paranoiden Motive in Rathjens Aussagen als Hinweise auf eine mögliche paranoid-halluzinatorische Schizophrenie und schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung. In sein Wahnsystem habe er ein detailliertes fremdenfeindliches und rechtsextremes Weltbild fest verankert und sich auserkoren gewähnt, „das Rätsel“ der Welt durch die Auslöschung von solchen „Rassen“ zu lösen, die er als „destruktiv“ ansah. Damit habe er sich öffentliche Anerkennung verschaffen und Vergeltung für empfundene Kränkungen üben wollen. Die Verknüpfung von wahnhaften mit rechtsextremen Motiven sei untypisch für Rechtsterroristen; diese seien in der Regel nicht krank. Die Kriminologin Britta Bannenberg sah Rathjens „wahnhafte Vorstellungen“ als Ursache seiner Taten. Seine rechtsextreme Einstellung habe die Art seiner Radikalisierung und Opferauswahl beeinflusst.

Laut Medienberichten vom März 2020 hatte das BKA im Entwurf seines Abschlussberichts geschrieben, der Täter habe zwar eine rassistische Tat verübt, sei aber keiner rechtsextremen Ideologie gefolgt. BKA-Präsident Holger Münch widersprach den Berichten und stellte klar: „Das BKA bewertet die Tat als eindeutig rechtsextremistisch. Die Tatbegehung beruhte auf rassistischen Motiven.“

Laut dem Auftragsgutachten des forensischen Psychiaters Henning Saß für die Bundesanwaltschaft vom November 2020 litt Rathjen unter einer paranoiden Schizophrenie und hing zugleich einer „rechtsradikalen Ideologie“ an. Krankheit und Ideologie seien untrennbar miteinander verschmolzen gewesen. Sein Denken sei eine Mischung aus „krankheitsbedingten Fantasien“ und einem „politisch-ideologischen Fanatismus“ gewesen. Dieser habe „fremdenfeindliche, rassistische und völkische Elemente“ enthalten. Neben Wahnvorstellungen, Opfer einer Verschwörung zu sein, seien „zunehmend ausgeprägter Rassismus und Fantasien über die Auslöschung ganzer Völker und Kulturen“ getreten. Die Fähigkeit „sich reflektierend mit der eigenen krankhaft verformten Weltsicht“ auseinanderzusetzen, sei massiv eingeschränkt gewesen. Gleichwohl habe er die Morde „planvoll“ vorbereitet. Im Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtages zu dem Anschlag von Hanau bekräftigte Saß im Februar 2022 diese Einschätzung.

Reaktionen

Trauer und Gedenken

Gedenken für die Opfer am Heumarkt (2020)
Erinnerungskundgebung in Hanau am 22. August 2020
Graffiti für Vili Viorel Păun in Dresden (2021)
Wandbemalung zur Erinnerung an die Opfer im Stadion des SV Linden 07, Hannover (2022)

Am Vormittag des 20. Februar 2020 trafen sich Freundeskreise an den Tatorten, in Kulturvereinen und Bars, trauerten gemeinsam und tauschten persönliche Erinnerungen an die Mordopfer aus. Bewohner Hanaus teilten deren Fotografien in sozialen Medien, um der medialen Fixierung auf den Täter entgegenzutreten. Am Nachmittag fand eine Trauerkundgebung für die Opferangehörigen am Heumarkt und ein Schweigemarsch zur Kesselstadt statt, organisiert vom Kurdischen Kulturverein und mitgetragen von Moschee-Gemeinden und Migrantenvereinen. Vor rund 400 Teilnehmern nannte die Sprecherin Newroz Duman Hanau „Stadt der Migration“ und sprach die Angst der Migranten aus: „Bin ich vielleicht die Nächste, weil ich schwarze Haare habe? […] Ich bin Hanauerin, Wir sind Hanauer, wir haben das hier mit aufgebaut, das Leben hier.“ Sie verlas die Namen der Toten und versprach, alles zu tun, damit sie nie vergessen werden. Im Kulturverein AYDD trauerten 300 Menschen mit dem 77-jährigen krebskranken Behçet Gültekin um seinen Sohn Gökhan. Viele stammten wie die Familie Gültekin aus der osttürkischen Provinz Ağrı. Bei der offiziellen Trauerfeier am Abend durfte der Vater von Ferhat Unvar nicht neben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und anderen Amtsträgern auf der Bühne stehen.

In seiner Rede vor rund 5.000 Zuhörern in Hanau erinnerte Steinmeier dann an den Mord an Walter Lübcke und den Anschlag in Halle (Saale) 2019. Er rief zu Rücksichtnahme und Solidarität auf: Diese seien das „stärkste Mittel gegen den Hass“. In vielen deutschen Städten fanden Mahnwachen für die Opfer statt. Bundeskanzlerin Angela Merkel verurteilte den Anschlag als Hassverbrechen und betonte, die Bundesregierung werde sich allen, die Deutschland zu spalten versuchten, mit aller Kraft entgegenstellen. Politiker und Amtsträger aller Parteien zeigten sich erschüttert; viele betonten, nun müssten alle Rassismus und Rechtsextremismus noch stärker entgegentreten. Bundesinnenminister Horst Seehofer ordnete Trauerbeflaggung an allen öffentlichen Gebäuden in Deutschland an und stellte politische Konsequenzen in Aussicht, eventuell auch Gesetzesänderungen.

Am 4. März 2020 fand im Kongresszentrum eine zentrale Trauerfeier mit den Hinterbliebenen und politischer Prominenz statt, darunter Bundespräsident und Bundeskanzlerin. Die Veranstaltung wurde auf Großbildleinwänden auf zwei Plätzen in der Innenstadt übertragen. In einem Brief an die Bundeskanzlerin vom selben Tag forderte Ferhat Unvars Mutter Serpil Temiz eine vollständige Aufklärung der Tat, die Vermeidung der gleichen Fehler wie nach den NSU-Morden, einen offiziellen Ansprechpartner und eine lebenslange Unterstützung für die Opferfamilien. Zudem brauche es eine staatlich geförderte Stiftung zur Aufklärungsarbeit gegen Hass und Rassismus. Die Namen der Opfer von Hanau dürften nie vergessen werden, sollten in der Schule gelernt werden und auf den Straßen lesbar sein. Im Mai 2020 lud der Landtag Hessen die Opferfamilien erstmals ein und gab ihnen im Innenausschuss Auskunft zum Ermittlungsstand. Die Betroffenen zeigten sich unzufrieden. Armin Kurtovic verlangte, „dass man offen sagt, wer versagt hat“.

Am 2. Februar 2021 hielt der Landtag für die Opferfamilien eine Gedenkstunde. Dabei nannte Landtagspräsident Boris Rhein (CDU), der einzige Redner, die Nacht vom 19. auf den 20. Februar „ein unauslöschbares Datum“ und versicherte: „Die Morde von Hanau haben uns wachgerüttelt“, sie seien „eine Zäsur“ und „ein Anschlag auf uns alle“. Ein „Wehret den Anfängen“ sei nun fehl am Platz: „Wäre der Anfang abgewehrt worden, wären wir nicht da, wo wir sind“. Er prangerte Hass, Hetze und Alltagsrassismus an. Er dankte den anwesenden Opferangehörigen dafür, „dass Sie Ihre starke und mahnende Stimme erheben“, „die notwendige Auseinandersetzung mit rassistischen Strukturen in unserer Gesellschaft wieder klar auf die Tagesordnung in allen Parlamenten gesetzt“ und „zu Recht Solidarität eingefordert“ hätten. Der Landtag werde „immer offen für den Dialog mit Ihnen sein“. Hinterbliebene und Überlebende hatten allerdings im Landtag kein Rederecht. Nach der Feier äußerten sie gegenüber Journalisten erneut Kritik an den Ermittlungen und der geplanten Opferhilfe: Deren Umfang von zwei Millionen Euro sei „lächerlich gering“. Innenminister Peter Beuth sei nach ihrem Eindruck nicht zur Aufklärung von Polizeifehlern bereit. Angehörige und ihre Unterstützer kritisierten unter anderem, dass der Täter trotz seines auffälligen Verhaltens vor der Tat die Lizenz für mehrere Schusswaffen erhalten hatte und einzelne Opferangehörige nach der Tat zuerst Gefährderansprachen ausgesetzt waren.

Politik und Gesellschaft

Trauerbeflaggung vor dem Münchner Maximilianeum (2020)

UN-Generalsekretär António Guterres sprach den Opferfamilien sein Beileid aus und forderte einen verstärkten Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Hass gegenüber Muslimen. Ähnlich äußerten sich Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, der EU-Ratspräsident Charles Michel und der Präsident des Europäischen Parlaments David Sassoli.

Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime in Deutschland und Josef Schuster vom Zentralrat der Juden in Deutschland kritisierten eine jahrzehntelange Untätigkeit von Politik und Sicherheitsbehörden zum Schutz deutscher Minderheiten. Die Gefahr rechter Gewalttäter sei zu lange verharmlost worden. Romani Rose vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma erklärte, alle Sinti und Roma in Deutschland trauerten mit den Angehörigen um alle Opfer des Anschlags. Dieser zeige auf brutale Weise auf, wie weit die Hemmschwelle unter Rechtsradikalen und Rassisten gesunken sei, auch dadurch, dass die etablierten Parteien der AfD immer mehr Raum gäben. Die Kurdische Gemeinde Deutschland ermutigte dazu, keine Angst zu haben und Farbe zu bekennen. Für die Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland traten die politischen Verantwortlichen dem Rechtsterrorismus und rechten Netzwerken nicht entschlossen genug entgegen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan telefonierte mit einigen türkischstämmigen Verletzten. Türkische Verbände organisierten am 23. Februar 2020 eine Großdemonstration in Hanau. Regimekritische Türken und Kurden sahen darin eine nationalistische Vereinnahmung des Anschlags, die dem Appell der Bundesregierung zum Zusammenhalt zuwiderlaufe. Erdogans Anhänger waren der von Kurden, Antifaschisten und Linken organisierten Gedenkveranstaltung am 22. Februar 2020 ferngeblieben.

Vertreter der AfD bestritten rechtsextreme und rassistische Tätermotive. Der damalige AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen meinte, die Morde seien „weder linker noch rechter Terror“, sondern die „wahnhafte Tat eines Irren“ gewesen. Andere führende AfD-Politiker sprachen von einem „massiv psychisch gestörten Einzeltäter“ und versuchten, seine Morde als Folge von Angela Merkels Politik darzustellen. Auf die rassistischen Eigenaussagen des Täters gingen sie nicht ein. Der AfD-Bundesvorstand distanzierte sich auf Twitter vom Gedankengut des Täters, verbreitete dieses aber zugleich mit einem Link auf sein Pamphlet und seine archivierte Webseite. CDU-Vertreterin Annegret Kramp-Karrenbauer bekräftigte daher, mit der AfD dürfe keine andere Partei zusammenarbeiten: Die AfD dulde Rechtsextreme in ihren Reihen und schaffe „eine Grundlage für genau jenes Gedankengut, das zu Hanau geführt hat.“ Katharina Nocun und Pia Lamberty kritisierten, die Pathologisierung des Täters verharmlose seine Tat. Verschwörungsideologien seien nicht nur „irre Hirngespinste“, sondern Teil der Radikalisierung. Die NdM-Vorsitzende Sheila Mysorekar machte die AfD für den Anschlag mitverantwortlich. Die AfD Hessen habe mit ihren Internet-Memes über mehrere Wochen explizit gegen Shisha-Bars gehetzt und diese mit „Ausländerkriminalität“ in Verbindung gebracht.

In sozialen Medien wurden Verschwörungsthesen zur vermeintlichen „Wahrheit über Hanau“ verbreitet, etwa, dass es eine „Geheimdienstoperation“ gewesen sei, um der AfD zu schaden. Das Magazin Compact behauptete beleglos, vor den Morden habe ein „Bandenkrieg“ mit „den Russen aus Frankfurt am Main“ in der Luft gelegen. Chefredakteur Jürgen Elsässer verglich die Tat in Hanau mit dem Reichstagsbrand von 1933. Wegen solcher Thesen stuft das Bundesamt für Verfassungsschutz Elsässers Magazin seit März 2020 als rechtsextremen Verdachtsfall ein.

Am 14. Juli 2021 nahm ein Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags seine Arbeit auf. Er soll einige offene Fragen klären, darunter was die Behörden über den Täter wussten, wieso er legal an Waffen kam und warum die Notrufnummer nicht erreichbar war. Im Untersuchungsausschuss wurde der Status des Notausgangs sowie das Fehlen eines ausführlichen Tatortberichtes thematisiert.

Sozialwissenschaften

Der Terrorismusexperte Peter R. Neumann sah in dem Pamphlet des Täters ein „Muster von sozial isolierten Männern, die sich im Internet aus verschiedenen Elementen selbst eine Ideologie zusammenbasteln.“ Der Mann habe eindeutig einer rechtsextremen Ideologie angehangen und der Text weise zudem darauf hin, dass der Täter erheblich psychisch gestört gewesen sei. Er wies darauf hin, dass es ähnliche Fälle von politisch motivierten Taten in der Vergangenheit häufig gegeben habe und viele Täter „in virtuellen Subkulturen aktiv“ gewesen seien. Die Sicherheitsbehörden müssten in solchen Subkulturen „noch viel stärker unterwegs sein und diese Online-Foren überwachen und infiltrieren“. Was im Bereich Dschihadismus bereits passiere, müsse auch im Bereich Rechtsextremismus umgesetzt werden. Das Internet werde noch zu wenig „als Ort verstanden, in dem sich Extremisten vernetzen.“ Zur These des „einsamen Wolfes“ sagte der Politikwissenschaftler, dass sich in den meisten Fällen später herausstelle, dass es ein soziales Umfeld gegeben habe, mit dem kommuniziert worden sei.

Der Rechtsextremismusforscher Matthias Quent wies auf die Ähnlichkeit mancher Aussagen des Täterpamphlets zur Ideologie führender AfD-Vertreter hin. Der Rechtsextremismus-Experte Frank Jansen verglich Rathjens Bekennertext mit der Mentalität von Reichsbürgern: „Verfolgungswahn trifft Größenwahn.“ Dies sei eine gefährliche, durch narzisstische Kränkungen des Täters angereicherte Kombination, die bei Rechtsextremisten oft Gewalt legitimiere. Der Rechtsextremismusforscher Jan Rathje erklärte, dass das Ziel der Täter sei, durch ihre Videos und Manifeste Nachahmer anzuregen. In rechtsextremen Foren würden sie als Helden gefeiert. Daher müsse der Repressionsdruck auf den Rechtsextremismus erhöht werden.

Auch der Rechtsextremismusforscher Hajo Funke verwies auf Höcke-Äußerungen wie dessen Appell für eine „Politik wohltemperierter Grausamkeit“. So schaffe man „das Milieu, die Bereitschaft, die Atmosphäre“ und „die Entfesselung von Ressentiments“. „Über Jahrzehnte bis weit in die Aufarbeitungsversuche des NSU“ sei vom BKA und dem Verfassungsschutz „eher verdrängt worden“, was von rechts gekommen sei. Von Seiten der Sicherheitsbehörden käme es jedoch mittlerweile „immer öfter zu verschärften, präventiven Reaktionen“.

Laut dem Soziologen Sebastian Wehrhahn ist das „klassisch rassistische Weltbild“ des Täters „keineswegs nur für die Extreme Rechte wichtig“, vielmehr weist es „viele Überschneidungen und Berührungspunkte mit einem gesellschaftlich weit verbreiteten Rassismus auf“. Verwirrung und Rassismus schlössen sich nicht aus. Es dränge sich auch die Frage auf, „warum bei rechten Anschlägen die geistige Verfassung des Täters gegen den ideologischen Hintergrund aufgerechnet“ werde.

Der Kulturkritiker Georg Seeßlen warf die Frage auf, wie gesund oder krank eine Gesellschaft ist, die solche Täter hervorbringt. Hierzu schrieb er: „Die Täter tun wirklich, wovon zu schwadronieren längst erlaubt, gewohnt und hingenommen ist.“ Seeßlen zog eine Analogie zwischen Rechtsextremismus und einer Droge und zeigte hierfür mehrere Parallelen auf, so unter anderem: „Das Euphorisierende, das Sich-stark-und-unbesiegbar-fühlen, […] die Abfolge von Rausch und Entzug, die zur Notwendigkeit führt, die Dosis zu erhöhen“. Er betonte zugleich, dass dies nichts an der persönlichen Verantwortung der Täter, ihrer Helfer und Anstifter ändere.

Laut dem Kulturwissenschaftler Michael Butter enthielten das Manifest und die Videos des Täters keine Bezüge zu den derzeit bei Rechtsextremen populärsten Verschwörungstheorien. Rathjens Glaube, dass ein angeblicher Geheimdienst seine Gedanken abhöre, könne als eine Art private Verschwörungstheorie begriffen werden. Diese Idee sei jedoch widersinnig, weil Veröffentlichung und größere Anhängerschaft Verschwörungstheorien kennzeichne. Mit diesem Kriterium grenze man sie üblicherweise von paranoiden Wahnvorstellungen ab.

Staatliche Maßnahmen

In den Tagen nach dem Anschlag erfolgten eine Brandstiftung nahe einer Shisha-Bar und einem Döner-Imbiss in Döbeln (21. Februar), Schüsse auf eine Shisha-Bar in Stuttgart (22. Februar) und Schüsse auf ein Haus in Heilbronn (23. Februar 2020), als der Generalsekretär des Moscheeverbandes DITIB Abdurrahman Atasoy dort eintraf. In allen drei Fällen übernahm der Staatsschutz die Ermittlungen, weil politische Motive und Nachahmungstaten möglich waren.

Das deutsche Waffengesetz war nur Tage vor der Tat verschärft worden und verpflichtet die Waffenbehörden seit 20. Februar 2020 auf eine Regelanfrage bei Verfassungsschutzämtern und eine psychologische Begutachtung von unter 25-jährigen Antragstellern. Da Rathjen den Waffenbehörden weder als rechtsextrem noch psychisch krank aufgefallen war und zu keiner verfassungsfeindlichen Vereinigung gehört hatte, wurde fraglich, ob die Verschärfung genügt. Bundesinnenminister Horst Seehofer erwog, Antragsteller jeden Alters zur Vorlage eines ärztlichen Gesundheitsgutachtens zu verpflichten. Allgemeine Psychotests für Waffenbesitzer schloss er aus. Dagegen forderte der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen, jeder Antragsteller solle künftig auf eigene Kosten ein amts- oder fachärztliches psychologisches Zeugnis über seine Eignung vorlegen. Die SPD und Bündnis 90/Die Grünen erwogen, eine Waffenerlaubnis nur noch bei Vorlage eines psychologischen Gutachtens oder Tests zu erteilen und Waffenbesitzer zu regelmäßiger psychologischer Begutachtung zu verpflichten. Die Grünen forderten zudem, die private Lagerung von Sportwaffenmunition zu verbieten und die Munition nur noch bei Schützenvereinen und Schießständen zu lagern. Roman Grafe hatte 2009 nach dem Amoklauf von Winnenden und Wendlingen die Initiative Keine Mordwaffen als Sportwaffen! gegründet. Er verlangte erneut, den Privatbesitz von Sportwaffen generell zu verbieten, da dieses Risiko nicht regulierbar sei. Mehr als 270 Opfer von Sportschützen seien dokumentiert; hinzu komme eine Dunkelziffer. Die ebenfalls 2009 gegründete Stiftung gegen Gewalt an Schulen sprach sich für die regelmäßige Überprüfung von Waffenbesitzern und Zusammenführung der Behördenkenntnisse zu ihnen aus.

Dagegen sah der Deutsche Schützenbund durch solche Verbote und Forderungen das „immaterielle Kulturerbe des deutschen Schützenwesens“ in Gefahr und lehnte weitere Verschärfungen des Waffenrechts ab. Josef Kelnberger (Süddeutsche Zeitung) kommentierte: Da Schützenvereine jahrzehntelang politisch unterstützt worden seien, müssten sie nun über eine Verschärfung des Waffenrechts mit sich reden lassen. Sie seien verpflichtet, sich am Kampf der Gesellschaft gegen Rechtsextremismus und Waffengewalt zu beteiligen. Angesichts immer wiederkehrender Morde, die Sportschützen mit großkalibrigen Waffen begehen, seien wirksame Gegenmaßnahmen zu erörtern. Die Schützen selbst sollten solche Maßnahmen freiwillig vorschlagen: „Die Gesellschaft darf mehr erwarten als ein beleidigtes Nein.“

Das Bundesinnenministerium schlug der Innenministerkonferenz einige Maßnahmen vor, um die Kommunikation zwischen Gesundheitsämtern, Polizei und Waffenbehörden der Länder zu verbessern. Diese wurden bis Februar 2021 nicht umgesetzt. Das Waffengesetz erlaubt den Waffenbehörden zwar, Waffenbesitzer nach eigenem Ermessen persönlich vorzuladen, verlangt weiterhin aber keine Standardüberprüfung der psychischen Gesundheit. Die zuständigen Gesundheitsminister wollten weitergehende Regelungen, die die ärztliche Schweigepflicht berühren, erstmals im Juni 2021 diskutieren. Die Linksfraktion des hessischen Landtags wollte den Generalbundesanwalt und Innenminister Peter Beuth (CDU) im Innenausschuss befragen, warum der Täter legal Waffen besitzen konnte, obwohl er „seit 2002 immer wieder mit Wahnvorstellungen aggressiv und straffällig in Erscheinung getreten“ war. FDP-Innenpolitiker Benjamin Strasser kritisierte die Regelabfrage bei Verfassungschutzämtern als unzureichend und bürokratisch: Die Ämter sollten „proaktiv ihre Erkenntnisse über bekannte Rechtsextremisten an die Waffenbehörden melden“ und nicht auf deren Nachfragen warten. Ende 2020 besaßen rund 1200 den Sicherheitsbehörden bekannte deutsche Rechtsextreme legal Waffen, und die Gesamtzahl der erlaubnispflichtigen Waffen in Privatbesitz war von 5,36 (2017) auf 5,57 Millionen gestiegen.

Ein vom Kreistag Main-Kinzig beschlossenes Angebot zum Rückkauf von Privatwaffen bei freiwilliger Rückgabe kleiner Waffenscheine blieb weitgehend erfolglos. Im November 2020 gaben nur 13 von 5.000 Waffenbesitzern im Landkreis ihre Waffen und Waffenscheine ab.

Zum Jahrestag des Anschlags forderte der Vorsitzende des Vereins DeutschPlus Farhad Dilmaghani als Vertreter der Migrantenorganisationen: Um weitere Anschläge dieser Art zu verhindern, brauche Deutschland „ein antirassistisches Klima in unserer Gesellschaft: mehr Wissen und Aufklärung über Rassismus. Strukturelle Veränderungen in der Durchlässigkeit unseres Landes und neue Instrumente wie ein Ministerium für Gesellschaftlichen Zusammenhalt, Antidiskriminierung und Migration oder ein Bundesantidiskriminierungsgesetz.“

In einem internen Bericht kritisierten Beamte der Polizei in Südosthessen neun Monate nach dem Anschlag die Polizeistrukturen, etwa dass in der Tatnacht nicht genug Polizeibeamte zur Verfügung standen. Fahndungshinweise hätten viele Beamte nicht erreicht. Die Polizei plante Reformen seiner Strukturen.

Rezeption

Der Rapper Azzi Memo veröffentlichte etwa einen Monat nach dem Anschlag zusammen mit 18 weiteren Musikern den Benefizsong Bist du wach?, der sich gegen Rassismus richtet und der Opfer des Anschlags gedenkt. Alle Erlöse des Songs sollen an die Amadeu-Antonio Stiftung gespendet werden, die sich mit diesem Geld explizit um die Betroffenen und Hinterbliebenen des Anschlages kümmert.

In dem sechsteiligen Spotify Original Podcast 190220-Ein Jahr nach Hanau begleiten die Journalistin Sham Jaff und die Reporterin Alena Jabarine Angehörige zu den Tatorten und sprechen mit ihnen über die Opfer. Unter anderem wird über die Tatnacht, den Tathergang und das Verhalten der Polizei und der Staatsanwaltschaft gegenüber den Angehörigen gesprochen. Ebenso kommen die Rechtsanwältin Antonia von der Behrens, die Journalistin Hadija Haruna-Oelker, Saba-Nur Cheema von der Bildungsstätte Anne Frank und Autorin Karolin Schwarz zu Wort.

Im März 2021 wurde bekannt, dass der Regisseur Uwe Boll an einer Verfilmung der Tat arbeitet. Dagegen formierte sich seitens der Stadt Hanau, der Familienangehörigen und in den sozialen Netzwerken Widerstand. Sie werfen Boll eine „Verzerrung der schrecklichen Ereignisse“ und „blutrünstige Sensationsgier“ vor.

Siehe auch

  • Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland
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